Die Verschiebung des EU-Sondergipfels um eine Woche lag an der Quarantäne von Ratspräsident Charles Michel. Hinter den Kulissen hieß es bald, die Verlegung auf heute und morgen sei durchaus willkommen gewesen, weil sich weder in den Beziehungen zur Türkei noch in der Antwort auf die Vorgänge in Weißrussland (Belarus) Entscheidungsreifes getan hatte. Die Sondertagung ist schließlich der europäischen Außenpolitik gewidmet. Nebstbei stehen auch Binnenmarkt, Industriepolitik und digitaler Wandel auf dem Programm.
Vorgesehen ist also eine Strategiedebatte über die Türkei und die Lage im östlichen Mittelmeerraum. Im August hatten sich die Staats- und Regierungschefs zu „uneingeschränkter Solidarität mit Griechenland und Zypern“ bekannt, und Michel sagte nun im Vorfeld des Gipfels, man werde sich „alle Optionen offenhalten“. Das ist Zypern, das Strafmaßnahmen will, zu vage, und so brachte das kleine Mitgliedsland, zum Ärger der anderen, mittels Junktimierung eine adäquate EU-Antwort auf Weißrussland zu Fall: Sanktionen gehen nur einstimmig, Zypern hielt sich raus.
Inzwischen war Michel selbst in Griechenland und Zypern, Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoan unter Beteiligung der deutschen Ratsvorsitzenden Angela Merkel wurden geführt. Ankara zeigte sich dialogbereit. Wie sich die Debatte am Gipfel entwickelt, ist aber noch völlig offen, es gibt in dieser Rechnung zu viele Unbekannte.
Kommen die Staats- und Regierungschefs mit der Türkei einen Schritt weiter, könnte das den Impuls für Sanktionen gegen Weißrussland bewirken und in weiterer Folge auch eine Reaktion auf die Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny – nachdem schon Wochen ungenützt verstrichen sind. Das Verhältnis zu China ist darüber hinaus das Hauptthema des heutigen Gipfeltages. Hier geht es vor allem darum, dass die Mitgliedsländer Geschlossenheit zeigen.
Wichtiges Thema nicht auf der offiziellen Agenda
Ein großes Thema dieses Gipfeltreffens ist auf der Tagesordnung gar nicht zu finden: Die Zeit drängt, den beim Budgetgipfel im Juli beschlossenen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFF) und das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm tatsächlich auf den Weg zu bringen – doch die Verknüpfung des MFF, der als Träger des Aufbaufonds fungiert, mit der Rechtsstaatlichkeit erweist sich als Hürde.
Seit Wochen wird in den Trilogen mit dem EU-Parlament über die Implementierung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips gerungen und es gibt wenig Fortschritte, die gegensätzlichen Positionen haben sich gefestigt. Die Vorsitzenden der vier großen proeuropäischen Fraktionen haben in einem gemeinsamen Brief unmissverständlich klargemacht, dass sie sich nicht über den Tisch ziehen lassen wollen. Zwar ist die Konstruktion des Aufbaufonds an sich schon abgesegnet, der MFF aber eben nicht.
Vorsitzland Deutschland goss diese Woche noch Öl ins Feuer, indem es in einem Vorschlag den ohnehin schon schwachen Kompromiss im Rat zum großen Ärger der Abgeordneten noch weiter verwässerte. Der Hebel, bei dem Brüssel ansetzen wollte, ist die Verwendung oder der Missbrauch von EU-Geldern. Die Kommission sollte das prüfen und damit Entscheidungsgrundlagen für den Rat bieten, aber schon bei der Definition der Begriffe gibt es unterschiedliche Auslegungen, und auch die Hürde, die vor einer Sanktion steht, wurde von den Staats- und Regierungschefs höher gemacht als von der Kommission vorgeschlagen. Der deutsche Vorschlag sieht nun vor, dass Kürzungen von EU-Mitteln überhaupt erst dann erfolgen können, wenn rechtsstaatliche Verstöße auch direkte Auswirkungen auf den Einsatz der Mittel haben. Ein wesentlicher Teil der Mitgliedsländer unterstützt das, einer anderen Gruppe, darunter auch Österreich, gehen die Maßnahmen nicht weit genug. Grundsätzlich wurde der Vorschlag einmal angenommen.
Vorwürfe gegen Polen und Ungarn
Polen steht nun aber etwa wegen einer umstrittenen Justizreform oder dem Umgang mit der LGBT-Community in der Kritik, Ungarn wegen des Umgangs mit der Pressefreiheit, der Wissenschaft und mit NGOs. Wie zum Hohn haben ausgerechnet diese beiden Mitgliedsländer nun mit einem originellen Vorhaben gekontert: Sie wollen ein eigenes Institut zur Überwachung der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Staaten gründen. „Das Ziel dieses Instituts wäre, dass wir nicht zum Narren gemacht werden“, so der ungarische Außenminister Peter Szijjártó.
Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (S&D), sagte, dass sich die Lage in einigen EU-Ländern drastisch verschlechtert habe. Gerade Länder wie Ungarn und Polen würden das Narrativ bedienen, es gehe hier um „West gegen Ost“, was aber nicht der Fall sei. „Das Thema entscheidet über die Zukunft der Europäischen Union“, so Barley. „Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, verlieren wir nicht nur einzelne Staaten aus dem Wertekanon, sondern wir verlieren auch die Bevölkerung in den anderen Ländern.“
Selbst ausgewiesene Proeuropäer würden zunehmend die Frage stellen, wie man denn die Union unterstützen könne, wenn ein Teil der Steuergelder am Ende bei Regimen landet, die mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wenig am Hut haben. Barley: „Polen und Ungarn sind die größten Empfänger von EU-Mitteln, die einen pro Kopf, die anderen absolut.“
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán indessen gibt sich vor dem Gipfel wie immer sehr kämpferisch: Am Dienstag verlangte er kühn den sofortigen Rücktritt der Vizepräsidentin der EU-Kommission, V(e)ra Jourová. Der Grund: Die Tschechin, die auch EU-Kommissarin für Werte und Transparenz ist, hatte in einem „Spiegel“-Interview die ungarische Medienlandschaft als „alarmierend“ bezeichnet und über Orbán gemeint: „Er baut eine kranke Demokratie auf.“
Kommission präsentiert Rechtsstaats-Analyse
Die Kommission zog am Mittwoch die Präsentation eines eigentlich für Montag geplanten neuen Instruments zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Ländern vor. Wie zu erwarten, stellte dieser „EU-TÜV“, der von nun an jährlich herauskommen soll, neben Bulgarien, Malta und Polen besonders Ungarn ein schlechtes Zeugnis aus. Bemängelt wird etwa ein „systematischer Mangel“ beim Vorgehen gegen Korruption, Druck auf unabhängige Berichterstatter oder durch die Politik gesteuerte Berichterstattung über regierungsfreundliche Medien.
Auch Österreich kommt vor: Grundsätzlich laufe es hier gut, es gebe aber Mängel im Justizsystem (Weisungsrecht) oder die unreglementierten Regierungsinserate in Medien.
Ungarn wies die Vorwürfe als „absurd“ zurück, Konzept und Methodik der Erhebung seien untauglich und könnten nicht als Diskussionsgrundlage dienen. So beziehe sich die Kommission etwa auf die Aussagen von zwölf NGOs, von denen elf durch den ungarischstämmigen US-Investor George Soros – Feindbild Orbáns – finanziert würden. Die Stimmung vor dem Gipfel ist vergiftet.