"Wir werden die Dublin-Regelung abschaffen.“ Der Satz stand nicht im Manuskript Ursula von der Leyens, als sie vergangene Woche ihre Rede zur „Lage der Union“ hielt. Die EU-Kommissionspräsidentin sprach ihn erst später während der Debatte mit den Parlamentariern aus und nahm damit einen Handlungsstrang der heutigen Präsentation vorweg. Die Kommission stellt ihre Pläne für ein neues Asylsystem vor – das alte ist kaputt.
Monatelang waren die beiden Kommissare Margaritis Schinas (Migration) und Ylva Johansson (Inneres) durch die Mitgliedsländer gezogen und hatten die Positionen eingesammelt – Brüssel wollte sich demonstrativ des Vorwurfs erwehren, über die Länder hinweg zu entscheiden. Migration sei eine Herausforderung für ganz Europa, so von der Leyen, deshalb muss „auch ganz Europa seinen Teil leisten“. Sie sprach damit eines der Grundprobleme der „Dublin-Verordnung“ an. Die inzwischen dritte Variante des 1990 eingeführten Asylverfahrens stammt aus 2013. Die Grundannahme entsprach dem altbekannten Muster: In einem Land gibt es Krieg oder große Not und die Bewohner flüchten, um Leib und Leben zu retten – ins Nachbarland. Nach dem Dublin-Verfahren ist jener Staat verpflichtet, das Asylverfahren durchzuführen, in dem die asylsuchende Person zum ersten Mal die EU-Grenzen betritt.
Doch 2015 kam alles anders. Hunderttausende flohen nicht einfach ins Nachbarland, sie legten enorme Strecken zurück, durchquerten zahlreiche Staaten und hatten vor allem ein Ziel: Deutschland. Sie kamen über Land – die Westbalkanroute – und über Wasser. Länder an den EU-Außengrenzen wie Griechenland, Italien, Malta und Spanien waren rasch überfordert. Der Begriff „Schlepperunwesen“ setzte sich fest, die entsetzlichen Bilder der Ertrunkenen im Mittelmeer oder der Erstickten auf der Ostautobahn prägten die Zeit und bestimmen bis heute den Diskurs.
Aufteilung auf die Länder nach Quote: Plan scheiterte
In der Folge wurden „Hotspots“ eingerichtet, ein erster Versuch, mehr als 100.000 Flüchtlinge per Quote auf die EU-Länder aufzuteilen, wurde zwar angenommen, scheiterte aber in der Praxis. Tschechien, Ungarn, Rumänien und die Slowakei kamen den Verpflichtungen nicht nach, das Konzept wurde schließlich gekippt. Entlastung brachte 2016 der „Türkei-Deal“. Sechs Milliarden Euro flossen: Rund 3,5 Millionen Syrer werden damit in der Türkei versorgt. Der Deal ist brüchig und macht die EU erpressbar.
Einiges von dem, was heute kommen soll, ist schon durchgesickert. Margaritis Schinas nannte die drei tragenden Säulen: bessere Zusammenarbeit mit Nachbar- und Transitländern, bessere Bewachung der Außengrenzen, neues Solidarsystem innerhalb der EU zur Flüchtlingsverteilung. Die Rettung von Menschen in Seenot sei keine Option, sondern Pflicht, stellte Ursula von der Leyen vorab schon einmal klar. Asyl- und Rückführungsverfahren sollen enger miteinander verknüpft werden – man müsse „klar unterscheiden können zwischen Menschen, die ein Recht haben zu bleiben, und Menschen, bei denen das nicht so ist“. Jenen, die bleiben können, müsse man eine Zukunft und Integrationsmöglichkeiten bieten. Viel erhofft man sich, so Ylva Johansson, durch eine Beschleunigung der Verfahren – einer der Zündstoffe im Lager Moria war etwa die oft jahrelange Ungewissheit über den Verlauf der Asylverfahren.
Schutz der Grenzen hat Priorität
Der Außengrenzschutz gilt als Gebot der Stunde. Die Grenzschutzagentur Frontex wird, wie beschlossen, aufgestockt. Lager wie Moria soll es nicht mehr geben, wohl aber „Aufnahmezentren“, deren Betrieb nicht mehr dem Gastland überlassen wird. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer schlug „Vorprüfungen“ an den Außengrenzen vor, bei Ablehnung sollte es eine unmittelbare Zurückführung geben. Gibt es jedoch grünes Licht, sollte dann nach dem „Fair-share-Prinzip“ jeweils ein Mitgliedsland dauerhaft für das weitere Asylverfahren zuständig sein.
„Die Erfahrung zeigt, dass Rückführungen in der Praxis kaum funktionieren“, wendet hingegen der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus ein. Er schlägt Kooperationen mit Drittländern vor. „Länder wie Tunesien und Marokko, Gambia oder Nigeria haben kein Interesse, ihre Landsleute schnell zurückzunehmen. Die Frage ist, was man ihnen dafür anbieten kann.“ Eine Möglichkeit wären Visa-Liberalisierungen nach dem Vorbild Ukraine, die im Gegenzug eine rasche Rücknahme Abgelehnter bedingen. Nach den Vorfällen in Moria wird der Ruf nach einer Verfahrensabwicklung noch vor den EU-Grenzen lauter. Knaus schlägt vor, ein Pilotprojekt in den an Marokko angrenzenden spanischen Enklaven Melilla und Ceuta zu starten; damit könnte man irreguläre Migration reduzieren, ohne das Asylrecht infrage zu stellen. Von „Anlandezentren“, eines der Schlagwörter der österreichischen Ratspräsidentschaft 2018, ist mittlerweile nichts mehr zu hören.
Der Kooperation mit afrikanischen Ländern kommt eine wachsende Bedeutung zu, auch beim Ausbau legaler Zugangswege. So schlug etwa vor Kurzem der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in der „Tagesschau“ vor, temporäre Arbeitsvisa über europäische Auslandsvertretungen auszustellen – statt das Geld einem Schlepper zu überlassen, könnten Arbeitswillige eine Art Kaution hinterlegen, die sie nach ihrer Rückkehr zurückbekämen.
Ylva Johansson ist bemüht, die Emotionen aus dem Thema zu nehmen. Eine „verpflichtende Solidarität“ der Mitgliedsländer sei zwar Voraussetzung, es gehe aber nicht nur um die Aufnahme von Flüchtlingen. Man könne auch auf andere Weise helfen. Seit 2015 gab es immer wieder Überlegungen, es Mitgliedstaaten zu ermöglichen sich etwa durch finanzielle Beiträge oder die Entsendung von Polizisten oder Asylexperten zu beteiligen - bisher ohne Erfolg. Johansson: „Es ist für jeden offensichtlich, dass Ad-hoc-Solidarität oder freiwillige Solidarität nicht ausreichen.“