Wenn eine große Rede schon im Vorfeld noch größer gemacht wird, können die Erwartungen nur allzu leicht enttäuscht werden. Ursula von der Leyen hielt ihre Rede zur Lage der Union vor dem EU-Parlament, erstmals (wegen der Pandemie) in Brüssel und es kam zu Beginn so, wie es kommen musste. Eine Schönwetterrede schien sich hier zuzutragen, mit vielen feinen Plänen für eine glänzende europäische Zukunft - das kennt man inzwischen schon.
Von der Leyen hat viel vor, das gut klingt. Das auf Schulden aufgebaute Sanierungsprogramm "NextGenerationEU" soll als Chance gesehen werden für künftige Generationen, "den Wandel" selbst zu gestalten, eine "starke Gesundheitsunion" zu schaffen, für "Krisen besser gerüstet" zu sein. Sie denkt an den Erhalt der Arbeitsplätze, die vier Grundfreiheiten sollen wieder hoch geschätzt werden usw.
Fast überraschend, dass es in dem riesigen Themenbereich auch substanzielle Vorschläge gibt, aber sie sind da und in fast schon erstaunlicher Klarheit, das wird auf den zweiten Blick deutlich. Eine neue Agentur für Biomedizin soll geschaffen werden, die Zuständigkeiten und Notmaßnahmen neu geregelt werden. Sie schlägt einen Rahmen für einen europäischen Mindestlohn vor. Sie will tatsächlich, wie angekündigt, die Emissionsziele von minus 40 Prozent bis 2030 auf minus 55 Prozent schrauben. Bis nächsten Sommer werden alle Klima- und Energievorschriften in der EU überarbeitet.
Und in dieser Tonart ging es weiter: Nicht nur 30, sondern 37 Prozent des Wiederaufbauprogramms sind für klimarelevante Maßnahmen vorgesehen, als neue Zielmarke gilt, das 30 Prozent der 750 Milliarden Euro ausdrücklich über grüne Anleihen beschafft werden. Von der Leyen plant ein europäisches "Bauhaus", über das Öko-Bau und "kluge Technologien" im Zuge einer "Renovierungswelle" eingesetzt werden. Und sie legt sich ganz nebenbei neuerlich darauf fest, acht Milliarden Euro für europäische Supercomputer bereitzustellen.
Die Rede ist persönlicher gehalten als ihre eher statischen Vorgänger, die Präsidentin wirkt emotionaler, auch bei ihren Antworten nach der ersten Fragerunde, wo sie gegen den rechten Rand klare Worte findet. Und sie sagt auch Sätze wie "Die Seenotrettung ist keine Option, sondern eine Verpflichtung", um anzufügen, es müsse in der Migrationsfrage klar unterschieden werden zwischen Menschen, die ein Recht haben zu bleiben, und jenen, bei denen das nicht so ist. Später, in einer Antwortrunde, nimmt sie noch einmal auf die angekündigte Asylreform Bezug: "Die Dublin-Verordnung wird abgeschafft, wir planen ein neues Governance-System."
Deutlich sind ihre Hinweise auf Missstände in den Ländern (sie erwähnt goldene Visa und meint Zypern, sie sagt - eindeutig in Hinblick auf Polen - "LGBTQI-freie Zonen sind Zonen, in denen der Respekt vor Mitmenschen abhanden gekommen ist. Dafür gibt es in unserer Union keinen Platz") (LGBTQI bedeutet Homosexuell, Bisexuell, Transgender, Anm.). Den Briten wirft sie ein Zitat von Margret Thatcher nach: "Großbritannien bricht keine Verträge. Es wäre schlecht für Großbritannien, schlecht für unsere Beziehungen zum Rest der Welt und schlecht für jeden künftigen Handelsvertrag.“
Auch Rechtsstaatlichkeit ist ein Thema, aber hier bleibt sie oberflächlicher, wie bei einigen anderen Themen auch. Ursula von der Leyen endet mit einer fast flehendlich wirkenden Bitte und Aufforderung: "Reden wir Europa nicht schlecht. Arbeiten wir lieber daran". Große Worte. Jetzt muss man sie nur noch in die Tat umsetzen.