Nach Auffassung von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und Polens Mateusz Morawiecki wurde beim EU-Gipfel keinesfalls die Möglichkeit beschlossen, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mit der Kürzung von EU-Geldern zu ahnden. Bei der Rechtsstaatlichkeit habe sich offenbar Orbán durchgesetzt, beklagte der SPÖ-Europasprecher Jörg Leichtfried am Dienstag. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) forderte, dass es in den nun beginnenden Gesprächen mit dem Europaparlament "Nachschärfungen" geben müsse.
Ungarn und Polen stehen wegen der Untergrabung von Werten wie der Pressefreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz seit Jahren in der EU am Pranger. Weil zahlreiche Verfahren Brüssels gegen Warschau und Budapest bisher keine Lösung brachten, hatte die EU-Kommission vorgeschlagen, über das EU-Budget einen neuen Hebel zu schaffen.
EU-Ratspräsident Charles Michel hatte im Februar den Vorschlag der Kommission bereits abgeschwächt und den Beschluss von Kürzungen von EU-Geldern per qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen. Nötig sind dann 55 Prozent der EU-Länder mit 65 Prozent der Gesamtbevölkerung, was als schwer zu erreichen gilt.
Dennoch drohte Orbán vor dem EU-Gipfel, das gesamte dort verhandelte Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro aus dem Corona-Hilfsfonds und dem nächsten Sieben-Jahres-Budget der EU per Veto zu verhindern. Auch Polen kündigte Widerstand an.
Textlich wurde der Vorschlag von Ratspräsident Michel im Laufe des Gipfels dann stark verändert und vor allem gekürzt. Zwar ist dort nun festgelegt, dass die Kommission Maßnahmen wegen Verstößen vorschlagen soll, "die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit angenommen werden". Viele Details des Mechanismus blieben aber unklar. Deshalb heißt es weiter: "Der Europäische Rat wird sich rasch mit der Angelegenheit befassen."
"Entscheidung vertagt"
"Im Prinzip wurde die Entscheidung vertagt", sagte die deutsche Grüne Franziska Brantner. Und bei einem weiteren EU-Gipfel müsste diese dann erneut per Einstimmigkeit getroffen werden. "Und dann wird keine Haushaltsentscheidung mit dranhängen und somit das Druckmittel auf Polen und Ungarn fehlen".
So sieht das im Prinzip auch Polens Regierungschef Morawiecki: "Wir haben dort die Notwendigkeit festgeschrieben, die Position des Europäischen Rates zu beantragen, die auf Einstimmigkeit beruht. Wir sind also auf allen Seiten geschützt." Orbán sprach von einem "riesigen Sieg". Seiner Ansicht nach wurden "alle Versuche, die Rechtsstaatlichkeit mit dem Budget zu verknüpfen, gestoppt".
Die deutsche Bundesregierung bestätigte unterdessen ungarische Medienberichte über eine angeblich weitgehende Zusage von Bundeskanzlerin Angela Merkel an Orbán nicht. Die Website Origo.hu hatte berichtet, Merkel habe dem Ungarn die Zusage gegeben, dass das gegen Ungarn laufende EU-Strafverfahren während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft bis Jahresende eingestellt werde.
Artikel-7-Verfahren
"Ungarn hat sich bereit erklärt, im Artikel-7-Verfahren alle notwendigen Schritte zu tun, damit es im Rat (der Mitgliedstaaten) zu einer Entscheidung kommen kann", erklärte daraufhin Merkels Sprecher Steffen Seibert. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft habe zugesagt, "im Rahmen ihrer Möglichkeiten diesen Prozess voranzubringen".
Aus EU-Kreisen hieß es, Orbán habe in der Gipfel-Runde verlangt, die "Erniedrigung" des sogenannten Artikel-7-Verfahrens zu beenden, das bis zum Entzug von Stimmrechten auf europäischer Ebene führen kann. Merkel habe darauf lediglich geantwortet, es sei gut, "mit den Artikel-7-Verfahren weiterzukommen".
Die EU-Kommission hatte das bis dahin beispiellose Verfahren im Dezember 2017 zunächst gegen Polen gestartet. Das Europaparlament löste dann September 2018 ein solches Verfahren auch gegen Ungarn aus. Doch die Hürden für Sanktionen sind hoch. Und ein Stimmrechtsentzug gilt in Brüssel als "Atombombe" im Verhältnis zu Mitgliedstaaten. Die EU-Regierungen unternahmen deshalb keine weiteren Schritte.