War es wirklich nur ein Fehler oder die versehentliche Vorwegnahme des neuen Vorschlags? In einem Begrüßungsbrief zum EU-Sondergipfel in Brüssel hatte Ratspräsident Charles Michel eine Gesamtsumme für den Finanzrahmen und den Wiederaufbau-Fonds von 1750 Milliarden Euro genannt – offiziell sind es aber um 100 Milliarden mehr. Eilig ruderte man zurück, doch da war bereits klar, dass Michel den 27 Staats- und Regierungschefs, die sich erstmals seit Monaten wieder persönlich trafen – übrigens am Geburtstag von Angela Merkel und Portugals Regierungschef Antonio Costa –, einen neuen Plan vorlegen würde.
Vor Beginn des Treffens, das coronabedingt unter außerordentlichen Hygienemaßnahmen stattfindet, zeigte sich Kanzler Sebastian Kurz optimistisch: „Wir freuen uns, dass es eine Bewegung in die richtige Richtung gibt“, sagte er und meinte damit die Forderungen der „Sparsamen Vier“ (Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande). So seien Rabatte berücksichtigt (Österreich würde demnach 237 Millionen Euro jährlich lukrieren, Kurz hätte gerne "noch ein bisschen mehr"), es werde über eine Redimensionierung der Gesamtsumme diskutiert und man müsse sicherstellen, dass die Mittel in zukunftsträchtige Bereiche wie Klimaschutz oder Digitalisierung fließen.
Bis zum Dinner, das mit einstündiger Verspätung begann, stand freilich vieles wieder infrage: Länder wie Frankreich oder Polen wollen von Rabatten für andere nichts hören. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš, selbst wegen angeblich missbräuchlicher Verwendung von EU-Geldern unter Druck, äußerte sich pessimistisch: "Ich habe nicht das Gefühl, dass wir einer Einigung näher kommen", sagte er. Italiens Premier Giuseppe Conte wetterte gegen „europarechtswidrige Bedingungen“, die von manchen - etwa den Niederlanden - verlangt würden: Mark Ruttes Vorschlag sei "inkompatibel mit den Verträgen und politisch nicht praktikabel". Doch auch Sebastian Kurz knüpfte nach dem Dinner seine Zustimmung an Reformen und nannte in diesem Zusammenhang explizit Italien. „Ich bin überzeugt davon, dass in Italien einschneidende Reformen notwendig sind“, sagte er. Im "ZiB 2"-Interview meinte Kurz, "Es wird über die Nacht hier neue Vorschläge geben. Also es gibt Dynamik in unsere Richtung." Zuvor hatte er ein Sechs-Augen-Gespräch mit Angela Merkel und Emmanuel Macron, den Grundsteinlegern des Aufbauplans, geführt.
Die großen Brocken
Zu den großen Brocken gehören die Implementierung der Rechtsstaatlichkeit, aber auch die Vergabemodalitäten. In diesem Punkt sind es die Niederlande, die eine extrem harte Linie fahren: Premier Mark Rutte, der vor Wahlen in seinem Land steht, verlangt nationale Vetomöglichkeiten für Auszahlungen aus dem Fonds – das lehnen die anderen Länder ab. Charles Michel setzte sich unter vier Augen mit Rutte zusammen, auch mit Viktor Orban aus Ungarn gab es ein Einzelgespräch. Großer Streitpunkt waren auch die Allokationskriterien, die Laufzeit der Programme und das Verhältnis zwischen Zuschüssen und Krediten.
Die Nachfrage nach dem bereits geschnürten Soforthilfe-Paket ist noch dürftig – die Gelder aus dem ESM sind für die Länder nicht so attraktiv wie die nicht rückzahlbaren Zuschüsse. Wird, wie auch von Österreich gefordert, der Zeitrahmen von vier auf drei Jahre verkürzt, könnten es manche Länder schlicht nicht schaffen, in dieser Zeit adäquate Projekte zu entwickeln. Aus der Kommission heißt es, würde der Rahmen gar auf zwei Jahre reduziert, wäre das technisch bedingt höchst fragwürdig.
Woher kommt das Geld? Der Finanzrahmen speist sich aus allgemeinen Steuern, Zöllen, Beiträgen der Länder und in Zukunft vielleicht auch aus neuen Eigenmitteln, die noch fraglich sind. Der 750-Milliarden-Aufbaufonds soll am Finanzmarkt aufgenommen werden. Laut Plan würden 250 Milliarden als Kredite vergeben, rund 100 Milliarden wären Garantien, bleiben also 400 Milliarden, die von 27 Ländern ab 2028 (oder 2026) bis spätestens 2058 zurückgezahlt werden müssten – anteilig nach Beitragsleistung.
Der Gipfel wird heute, Samstag, fortgesetzt. Möglich ist eine Verlängerung bis Sonntag oder darüber hinaus - oder, falls eine Einigung diesmal noch immer nicht möglich ist, gibt es einen weiteren Gipfel Ende Juli.