In der luxemburgischen Winzergemeinde Schengen an der Mosel wurde das Abkommen unterzeichnet, das am 26. März 1995 in Kraft trat. Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg sowie Spanien und Portugal waren die ersten, Österreich, beigetreten erst 1995, setzte es mit 1. Dezember 1997 um. Keine Personenkontrollen mehr an den Grenzen, keine Schlagbäume, keine Staus. Freier Warenverkehr, freier Personenverkehr
Schon zum 20-jährigen Jubiläum, 2015, erlebte die Schengen-Idee einen schweren Rückschlag: es war der Beginn der Flüchtlingskrise. Heute ist Schengen im Prinzip außer Kraft, mittlerweile haben so gut wie alle Länder wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihre Grenzen geschlossen. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge notifiziert das ohne viel Aufhebens, nicht einmal alle Staaten haben das bis jetzt gemacht. Sie wissen, dass ihnen in der aktuellen Situation kein Verfahren droht. In aller Eile hat die Kommission die Mitgliedsländer davon überzeugt, dass auch die Außengrenzen der EU bzw. des Schengenraums für Reisende aus Drittländern zu schließen sein. Die Hoffnung, dass es in der Folge zu Lockerungen innerhalb dieses Raums kommen würde, erfüllt sich nicht. Einzig der Warentransport kommt wieder besser in Schwung, zumal jetzt auch überall "green lanes" eingerichtet werden sollen. Ein Sprecher der Kommission wies gestern aber neuerlich darauf hin, dass die Grenzschließungen nur deshalb gebilligt würden, weil sie als „temporäre Notmaßnahme“ gelten. Die Zukunft wird zeigen, wie lange die Befristung tatsächlich anhält.
Physische Grenzen innerhalb Europas bedeuten auch massive Eingriffe in die EU-Abläufe. Heute gibt es zum ersten Mal eine virtuelle Sitzung des EU-Parlaments; sie ist zwingend nötig, um das von der Kommission angestoßene Corona-Hilfsprogramm von 37 Milliarden Euro freizugeben. Die Abgeordneten werden von ihren Heimatländern aus per E-Mail-Verfahren abstimmen. Technisch und logistisch eine Herausforderung; Kritiker fürchten Manipulationsmöglichkeiten und einen zu starken Eingriff in demokratische Mechanismen. Ganz abgesehen davon, dass für eine korrekte Abwicklung dieses in höchster Eile entwickelten Systems nicht wenige Software-Experten ins Parlamentsgebäude kommen müssen - der einzige bisher bekannte Corona-Todesfall im Umfeld des Parlaments betraf genau so einen Techniker.
Gegen den Egoismus der Länder
Der erste Teil der Parlamentssitzung wurde am Vormittag schon absolviert, die Reihen im Brüsseler Plenarsaal waren entsprechend schütter besetzt; wieder mit dabei: Parlamentspräsident David Sassoli, der nach einem Besuch in seiner italienischen Heimat zwei Wochen lang in Selbstisolation war. Die Dringlichkeitsanträge für die Abstimmungen am Nachmittag wurden im Grunde einstimmig angenommen, 686 Abgeordnete (von insgesamt 705) beteiligten sich.
In einer langen Rede im Parlament sprach sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für mehr Solidarität unter den Mitgliedsländern aus: "Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst nur nach sich selbst geschaut". Erst jetzt, da sich etwa bei der Verteilung medizinischer Ausrüstung und der Versorgung von Patienten Solidarität zeige, gehe es wieder aufwärts. Konkret kritisierte die deutsche CDU-Politikerin im EU-Parlament Ausfuhrbeschränkungen für Atemschutzmasken, die einige Länder, darunter Deutschland, vor rund zwei Wochen erlassen hatten und mittlerweile zurückgenommen haben. Auch Grenzschließungen, die in manchen Teilen der EU den grenzüberschreitenden Warenverkehr stark beeinträchtigt hatten, verhinderten eine "erfolgreiche europäische Antwort" auf die Krise.
Nicht ein einziger Mitgliedstaat sei in der Lage, den eigenen Bedarf an medizinischer Ausrüstung alleine zu decken, warnte von der Leyen. "Eine grenzenlose Krise kann nicht gelöst werden, indem wir Barrieren zwischen uns errichten." Und doch sei genau das der erste Reflex vieler europäischer Länder gewesen. "Das macht einfach keinen Sinn", wetterte von der Leyen.
Parlamentarismus ohne anwesende Abgeordnete
Wird hier mit dieser neuen Art der Abstimmung vorweggenommen, was in Zukunft die Normalität sein wird? Ist Parlamentarismus auch ohne Anwesenheit der Abgeordneten machbar? Verträgt sich das mit der allgemeinen Auffassung von Volksvertretern und Demokratie? Aus heutiger Sicht: Als Notmaßnahme, angesichts der besonderen Umstände, ist das vertretbar. Zumal es um keine zukunftsträchtigen Entscheidungen geht, sondern darum, Hilfsmittel der EU auf den Weg zu bringen. Auf lange Sicht aber ist die persönliche Anwesenheit, Rede und Widerrede, der Tonfall, Drohgebärden, gemeinsames Lachen und miteinander Streiten das Grundprinzip des Parlamentarismus - all das fällt weg, wenn man nur noch verpixelte Köpfe auf einem flimmernden Bildschirm sieht und die Abstimmung über die Tasten anonymer Keyboards erfolgt.
Die Staats- und Regierungschefs der EU handeln inzwischen genauso, der Not gehorchend: Sie halten heute ihren Gipfel ab – und niemand muss dafür ins Flugzeug steigen. Allerdings gilt fürs erste noch das Umlaufverfahren, sollten die Staatenlenker Entscheidungen treffen wollen. Debatte und gegebenenfalls Einigung kann zwar über eine gemeinsame Videokonferenz erfolgen, die nötigen Dokumente muss dann aber in jedem Mitgliedsland unterschreiben und sie müssen nach Brüssel geschafft werden.
Die Coronakrise wird ihre Folgen in vielen, wenn nicht allen Bereichen haben. Bei allem, was zu den Grundpfeilern der Demokratie gehört, muss man wohl zweimal hinschauen - was kann bleiben, was muss wieder weg. Grenzsperren im Schengenraum etwa - damit wenigstens das 30-Jahr-Jubiläum so ausfällt, wie es sich die Begründer erhofft hatten.