Zwischen Deutschland und Österreich gibt es weiterhin Grenzkontrollen, ebenso Richtung Ungarn, Slowenien. Die bisherige Kommission hat das immer wieder genehmigt. Werden Sie das stoppen?
Ursula von der Leyen: Ich denke, wir brauchen bei der Migration einen Neustart. Deshalb reisen die beiden Kommissare Ylva Johansson und Margaritis Schinas jetzt durch alle Mitgliedsländer, um sich die sehr verschiedenen Standpunkte anzuhören. Nach meinen Gesprächen mit den Staats- und Regierungschefs habe ich den Eindruck, dass wir alle genug haben von der Pattsituation, in der wir stecken. Wir wollen einen neuen Migrationspakt vorstellen, zu Beginn des zweiten Quartals im kommenden Jahr, ein umfassendes Konzept. Dann können wir zu einem funktionierenden Schengensystem zurückkehren.
Vorerst bleibt alles, wie es ist?
Ich muss mich an die Zeitfolge halten.
Der Klimawandel hat Priorität in Ihrem Programm, gerade eben hat das EU-Parlament den Klimanotstand ausgerufen. Wie genau soll Ihr „Green Deal“ ausschauen, was ist da zu erwarten in den ersten 100 Tagen?
Ja, der grüne Deal ist neben Digitalisierung eines meiner Hauptthemen. Ambitioniert, komplex, aber ein Muss. Wenn es uns gelingt zu zeigen, was wir bei neuen Technologien und Refinanzierung zuwege bringen können, wenn wir die Menschen zu diesem Aufbruch bewegen können, dann werden wir es sein, die die Kenntnisse in alle Welt exportieren können. China beginnt gerade sein eigenes System des Emissionshandels, sie kommen zur Kommission und hören uns zu. Sie wollen wissen, welche Fehler zu vermeiden und was die positiven Effekte sind. Nach 100 Tagen werden wir mit dem ersten Fahrplan starten. Wir arbeiten die nächsten fünf Jahre daran und wissen, dass es ein generationenübergreifendes Projekt ist, bis 2050 klimaneutral zu sein.
Kommen die konkreten Vorschläge noch vor dem Gipfel im Dezember?
Es soll ein Papier noch vor Jahreswechsel kommen.
Was die Kosten betrifft, haben Sie gesagt, eine Billion bis 2030 reicht aus. Reicht das wirklich?
Man darf nie vergessen, dass es uns enorm viel kostet, wenn wir jetzt nicht handeln. Nicht nur an Geld, auch Lebensqualität. Natürlich brauchen wir europäisches und nationales Geld, ebenso Mittel aus dem Privatsektor und von der Investitionsbank. Wenn wir das richtig angehen, ist es ein starker Wachstumsfaktor. Die Welt wird Europa nach den Lösungen fragen, ich will, dass Europa die Standards setzt.
Wollen Sie beim mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) Mittel vom Agrar- und Kohäsionsbudget für Klimaziele und Digitalisierung umschichten? Oder unterstützen Sie den Wunsch der Mitgliedsländer nach mehr Mitteln?
Der MFR steht unter dem Aspekt, dass die kommenden sieben Jahre völlig anders zu betrachten sind als die vergangenen sieben Jahre. Als der alte Plan entstand, hatten wir noch keine Ukraine-Annexion durch Russland, der IS war weitgehend unbekannt, wir wussten nichts über die Destabilisation in Afrika, Klimawandel war nicht Hauptthema. Jetzt müssen wir die Mittel bündeln und straffen, auch das Agrarbudget, in Hinblick auf das Grün-Thema.
Die Mittel anders ausrichten oder auch kürzen?
Was immer am Ende steht, ist das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament, da kann ich jetzt noch keine konkreten Zahlen nennen.
Länder wie Italien könnten die Budgetpläne durchkreuzen. Machen Sie sich Sorgen?
Ich respektiere es, dass jedes Land seinen eigenen Weg geht, solange die Richtung stimmt. Ich bin mir sicher, dass die Regierung Verantwortung zeigt. Und ich sehe die Ernsthaftigkeit, mit der Italien arbeitet.
Österreich ist Teil der Nettozahler-Allianz, die beim MFR nicht mehr einzahlen will.
Wir wissen, dass jeder Mitgliedsstaat vom Binnenmarkt profitiert, besonders die Nettozahler. Ihre Exporterfolge übertreffen den Betrag, den sie in die EU investieren, bei Weitem. Ich denke es sind alle überzeugt, dass wir besser fahren, wenn wir unsere Kräfte bündeln, als Probleme allein zu lösen. Es hat einen Wert, in die Gemeinschaft zu investieren. Die Bürger erwarten sich auch Lösungen auf EU-weitem Niveau, gerade bei Klima oder Digitalisierung. Auch Innovation, Forschung, Bildung. Dafür brauchen wir Mittel. Also wird es intensive Verhandlungen geben, wir müssen aber auch neue Finanzquellen erschließen.
Sie reisen nächste Woche zum Nato-Gipfel. Kann sich Europa selbst verteidigen?
Die Nato ist die stärkste Militärallianz der Welt. Europa wird nicht eine eigene Militärmacht sein, das ist klar. Die EU muss funktionierende Strukturen für Krisenfälle haben. Wenn ich mir den Verteidigungssektor der letzten drei Jahre anschaue, stelle ich fest, dass Europa enorm aufgeholt hat. Wenn der politische Wille da ist, sind wir imstande, zu agieren. Die Europäische Verteidigungsunion wird aber immer eine Ergänzung zur Nato sein.
Wie haben Sie denn den Ruf in die EU erlebt? Hat es Symbolkraft, dass nach 50 Jahren erstmals wieder jemand aus Deutschland an der Spitze der EU steht?
Das ist jetzt genau fünf Monate her, das war am 1. Juli. Für mich war es sofort ein starkes Gefühl, heimzukommen. Ich bin in Brüssel geboren, meine Kindheitserinnerungen sind damit verknüpft. Ich habe mich mein ganzes Leben in die europäische Idee eingebettet gefühlt, auch durch meinen Vater, der in der Kommission war. Dass ich Deutsche bin, sehe ich nicht als Besonderheit.
Hatten Sie Zweifel?
Das ist so eine Ehre, da zögert man nicht. Es war ein außergewöhnlicher, schwieriger Tag. Ich war ja Verteidigungsministerin, wir hatten an diesem Tag einen Helikopterabsturz, es gab ein Todesopfer. Wir hatten uns gerade zu einer Beratung zurückgezogen, plötzlich stand dann das Telefon nicht mehr still.
Sie haben auch einen besonderen Bezug zu Österreich...
Seit ich zehn Jahre alt war, da waren wir noch in Brüssel, habe ich jeden Feriensommer in der Steiermark verbracht, auf der Alm. Das Haus gehört inzwischen einigen meiner Brüder. Wenn ich irgendwo Urlaub machen möchte, dann dort, vielleicht geht es sich im Sommer ja aus. Steiermark ist für mich Heimat und Kindheit. Ich liebe die Steiermark!