Ungewisser kann der Ausgang einer Abstimmung kaum sein: Heute Abend um 18 Uhr entscheidet das EU-Parlament, ob Ursula von der Leyen (CDU) die nächste Kommissionspräsidentin wird, oder nicht – und bis zum letzten Augenblick gibt es keine klaren Belege dafür, ob sie nun die nötigen 374 Stimmen schafft oder nicht.
Dennoch wird ein Ja immer wahrscheinlicher. Eine Mehrheit der Sozialdemokraten will für von der Leyen stimmen. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur in Straßburg aus der Fraktion. Zuvor hatten die Liberalen als drittgrößte Fraktion des Parlaments eine Wahlempfehlung abgegeben.
Die nominierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die Brüsseler Behörde mit der "Courage und Kühnheit" von Pionierinnen führen. "Aufstehen für unser Europa", so die Aufforderung der CDU-Politikerin bei ihrer Rede vor EU-Abgeordneten am Dienstag in Straßburg. Den Brexit bezeichnete sie dabei als ernste Angelegenheit.
Bereit für weiteren Brexit-Aufschub
Von der Leyen machte klar, dass sie für einen weiteren Brexit-Aufschub bereit wäre, wenn dieser "aus guten Gründen" erfolgen würde. Zur Entscheidung der Briten für den EU-Austritt 2016 sagte sie: "Das ist eine ernste Entscheidung. Wir bedauern sie, aber wir respektieren sie."
In Sachen Asyl und Migration fordert von der Leyen "Mitgefühl und entschlossenes Handeln" - einen neuen Pakt, der "humanitäre Korridore" für bedrohte Flüchtlinge vorsieht.
Die deutsche Verteidigungsministerin wies weiters auf die aus ihrer Sicht dringendsten Arbeitsfelder hin - der demografische Wandel, die Veränderungen der Weltwirtschaft, der Klimawandel seien keine "Metaentwicklungen". Wissenschafter hätten diese lange vorausgesagt, so von der Leyen. "Das Neue ist, dass wir als Bürgerinnen Europas die Auswirkungen spüren", erklärte sie. Die größte Verantwortung sei es, den Planeten "gesund zu halten", sagte von der Leyen und kündigte an, das erste europäische Klimagesetz durchsetzen zu wollen, in dem das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 verankert sei.
Des weiteren sprach sich von der Leyen in ihrer Rede vor den Abgeordneten für eine CO2-Grenzabgabe, die Stärkung des "Rückgrats der Wirtschaft", den klein- und mittelständischen Unternehmen" sowie das Initiativrecht des Europäischen Parlamentes aus. Die NATO sieht von der Leyen als "Eckstein der Verteidigung an", diese müsse jedoch "europäischer" werden, sagte sie in Hinblick auf die Entwicklung der strukturierten EU-Militärzusammenarbeit PESCO und schlug auch Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen vor.
Erste Frau an der Spitze
"Wenn wir diese Lücken schließen, werden wir als Union stärker darstehen", so von der Leyen, die die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission wäre, "genau 40 Jahre nachdem Simone Weil zur ersten Präsidentin des Europaparlaments gewählt wurde", wie sie selbst in ihrer Rede unterstrich. Sie dankte jenen, "die Hürden und Konventionen überwunden haben", wodurch es nun möglich sei, dass eine Kandidatin für den Vorsitz der Kommission antritt.
In der EU-Kommission soll es ihren Vorstellungen nach strikte Geschlechtergerechtigkeit geben. Sollten die EU-Länder nicht genug Frauen vorschlagen, will sie neue Namen vorschlagen, kündigte von der Leyen an. Sie bezeichnete sich vor den EU-Mandataren als "leidenschaftliche Kämpferin" für die europäische Union - "Wer Europa schwächen will, findet in mir eine erbitterte Gegnerin", so von der Leyen, die mit den Worten "Lang lebe Europa" ihre Rede schloss und dafür großen Applaus und Standing Ovations erhielt.
Umstrittener Selmayr geht
Der umstrittene EU-Spitzenbeamte Martin Selmayr hat seinen Abschied aus Brüssel angekündigt. Ende nächster Woche werde er seinen Posten als Generalsekretär der EU-Kommission aufgeben, sagte Selmayr dem Politikportal Politico nach einem Bericht vom Dienstag. "Ich werde nicht in Brüssel bleiben."
Zuvor hatte die Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, den Abgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) erklärt, dass Selmayr nicht Generalsekretär bleiben werde. Der 48-jährige Vertraute des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker war 2018 unter umstrittenen Umständen zum höchsten EU-Beamten befördert worden. Die EU-Bürgerbeauftragte hatte dies kritisiert und das Europaparlament seinen Rücktritt gefordert.
Vorgeschlagen wurde von der Leyen erst letzte Woche vom Rat, der damit das Spitzenkandidatenmodell des Parlaments zu Fall gebracht hat. Das Parlament, das allerdings selbst keine Einigung auf einen ihrer Leute geschafft hatte, ist seither auf Konfrontationskurs. Nach dem Motto: „Es liegt ja nicht an Ihnen, Frau von der Leyen, aber...“ Seither versucht die Kandidatin, die vom Wunsch der Staats- und Regierungschefs selbst überrascht wurde, in kürzester Zeit in alle Themen einzutauchen und bei allen Fraktionen für sich Stimmung zu machen. Das ging zunächst schief; vage Zusagen bei Anhörungen in den Fraktionen und eine je nach Gegenüber angepasste Prioritätensetzung reichten nicht.
Rücktritt in jedem Fall
Gestern gab sie, wohl als Zeichen, dass sie es ernst meint, ihren Rücktritt als deutsche Verteidigungsministerin bekannt – am Mittwoch, egal, wie die Wahl heute ausfällt. In Briefen, Telefonaten und Gesprächen macht sie nun alle Arten von Zusagen, die sie freilich nicht im Alleingang umsetzen kann: Stärkere Klimaziele, Migrationsbekämpfung in Herkunftsländern, EU-Reform, Geschlechtergleichstand bei den Kommissaren, Brexit-Verschiebung und vieles mehr. Aufhorchen ließ sie mit der Ansage, Mehrheitsbeschlüsse des Parlaments automatisch in Gesetzgebungsakte umzusetzen. Bei der Rechtsstaatlichkeit zeigte sie allerdings wie zuvor keine klare Kante.
Zwar hat sie die Stimmen der 182 EVP-Abgeordneten in der Tasche (diese zähneknirschend, aber immerhin ist von der Leyen eine „von ihnen“), die Sozialdemokraten (153) sind mehrheitlich nun für sie, Deutsche und Österreicher verweigern ihr allerdings die Zustimmung. Die Liberalen RE (108) stimmen für sie, geben gar eine Wahlempfehlung ab. Fraktionschef Dacian Ciolos erklärte auf Twitter, die liberale Fraktion Renew Europe werde die CDU-Politikerin unterstützen. Es gelte, "eine Hängepartie an der Spitze der EU-Kommission zu verhindern" und die EU "in stürmischen Zeiten eines drohenden Brexits" handlungsfähig zu halten.
Die Grünen (74) und Linken (41) unterstützen sie nicht. Bleiben die Rechtspopulisten ID, zu denen etwa Matteo Salvinis Lega gehört: sie äußerten sich ebenso wohlwollend wie kritisch; die FPÖ hat sich gegen die Deutsche ausgesprochen. Die europakritische EKR (62) äußerte sich positiv.
Die heutige Abstimmung ist geheim; Fraktionszwang gehört im EU-Parlament nicht zum Geschäft. Nicht nur für Ursula von der Leyen ein Nervenkitzel bis zuletzt.