Die Balten befinden sich angesichts der Spannungen zwischen dem Westen und Russland in einer sehr speziellen Situation. Wie schätzen Sie die Lage ein?
ARTIS PABRIKS: Wir haben eine ganze Reihe von Problemen, die nicht einfach unsere lettischen sind, sondern eine Frage der europäischen Außengrenze im Osten der EU. Grundsätzlich fühlen wir uns relativ sicher – trotz schwieriger Nachbarschaft. Zugleich würde ich nicht von einem derzeitigen lettisch-russischen Beziehungskonflikt sprechen. Ja, wir haben eine schwierige gemeinsame Vergangenheit, da die Sowjetunion die baltischen Staaten, und darunter Lettland, 1940 besetzt hat. Und davon wurden wir erst 1991 befreit. Das ist eine sehr spezielle historische Erfahrung, die aber zugleich Ähnlichkeiten mit jener Österreichs aufweist – auch in Ihrem Land sind die sowjetischen Truppen eine sehr lange Zeit geblieben. Zugleich sehe ich den Konflikt nicht als lettisch-russischen Konflikt. Es stehen sich vielmehr die Europäische Union, oder die westliche Welt auf der einen Seite und das heutige Russland auf der anderen Seite gegenüber. Allerdings haben wir, als direktes Nachbarland, meiner Meinung nach ein ganz besonderes Interesse, ein gutes Verhältnis zu Russland zu haben. Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern, die weiter weg sind von der Grenze, können wir uns aber keinen unrealistischen Ansatz im Umgang mit Russland leisten. Das ist das Einzige, das an unserer Situation besonders ist.
Realistisch zu sein – was bedeutet das für Lettland?
PABRIKS: Realistisch zu sein bedeutet, dass, wenn die Beziehungen zwischen der EU und Russland belastet sind, wir stärker davon betroffen sind. Realistisch zu sein bedeutet auch, dass wir, wann immer es Interaktionen mit Russland gibt, diese mit kühlem Kopf und klarem Geist einschätzen müssen. Für EU-Länder, die geographisch weiter entfernt von der östlichen Außengrenze sind, würde eine Krisensituation zum Beispiel bedeuten, dass es weniger Arbeitsplätze oder Industriewachstum gibt. Für uns in Lettland und den anderen baltischen Ländern könnte eine Krisensituation bedeuten, dass wir in existenzielle Gefahr geraten – dass unsere Existenz als Staat und das Leben unserer Bürger bedroht sind. Deshalb können wir es uns nicht leisten, unserem russischen Nachbarn gegenüber eine rosarote Brille aufzusetzen.
Als wie akut schätzen Sie derzeit das Bedrohungsszenario ein? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich in Lettland ein Szenario wie in der Ukraine wiederholt?
PABRIKS: Das ukrainische Szenario ist in den baltischen Ländern unmöglich – im Gegensatz zur Ukraine sind wir Mitglied der Nato und der Europäischen Union. Wir sind im Inneren ein starker, gefestigter Staat. Und da wir Teil eines Bündnisses sind, würde jeder potenzielle Aggressor verstehen, dass dies Krieg bedeuten würde – und zwar nicht nur mit Lettland, sondern Krieg mit dem Westen. Und genau aus diesem Grund wird, wer immer der Gegner ist, versuchen, die Europäische Union zu spalten, ihre inneren politischen Prozesse, Parteien und Wahlen zu beeinflussen. Und das ist es, was wir in Ländern wie Großbritannien mit dem Brexit genau beobachten können, ebenso in Frankreich und manchmal in Deutschland. Wann immer diese Spaltungsversuche auftreten, erfolgen sie mit dem Ziel, die Einigkeit und Kraft der Europäischen Union zu schwächen. Für uns kommen diese Dinge nicht überraschend, weil wir immer schon unter diese Form von Druck gestanden sind, sei es durch Propaganda, die aus dem Ausland gegen uns gerichtet wurde, oder durch Cyber-Angriffe. Als diese Phänomene nach Beginn des Ukraine-Kriegs 2014 auch in westlichen oder mitteleuropäischen EU-Ländern auftraten, war das für diese Länder Neuland - für uns nicht. Nachdem wir hier über die Jahre leider viel Erfahrung sammeln mussten, können wir betroffene Länder im Umgang damit gerne unterstützen, wenn Interesse daran besteht.
Was sind derzeit aus sicherheitspolitischer Sicht die größten Herausforderungen für Lettland?
PABRIKS: Wir fühlen uns sicher. Wir wissen, wir kümmern uns gut um unsere Verteidigung und haben Ressourcen dafür aufgebaut. Zudem haben unsere Alliierten Truppen im Baltikum bzw. in Lettland stationiert. Daher bin ich der Meinung, wir stehen im Grund vor ähnlichen Herausforderungen wie die Österreicher. Das bedeutet: Wir brauchen mehr Wirtschaftswachstum, wir brauchen ein stabiles globales Handelssystem, wir brauchen gute Beziehungen zwischen Europa und den USA, und ich habe mich sehr gefreut, dass auch der österreichische Kanzler kürzlich Washington und US-Präsident Trump besucht hat. Ich halte das für sehr wichtig. Weil: Wenn der Westen fällt, wenn die EU schwächer wird, wenn es der Nato an Entschlossenheit fehlt, kann uns das stärker schaden als anderen Ländern der EU.
Haben Sie das Gefühl, sich auf Donald Trump in Bezug auf seine Unterstützung der Nato verlassen zu können?
PABRIKS: Wir haben äußerst gute bilaterale Beziehungen mit den USA. Beim letzten Nato-Treffen in Brüssel hat mir US-Verteidigungsminister Patrick Shanahan mehrfach bestätigt, dass die USA zum Bündnis stehen. Die Forderung aus Washington, dass die Nato-Partner ihre Zusagen in Bezug auf die Verteidigungsausgaben einhalten sollen, kann ich nachvollziehen. Die europäischen Staaten – und das sind reiche Staaten - müssen einen angemessenen Beitrag leisten. Lettland erfüllt in dieser Hinsicht seine Hausaufgaben. Denn: Es geht hier um unsere gemeinsame Sicherheit. Wenn man sein Zuhause verlässt, und nicht gerade in einer sehr abgelegenen Gegend wohnt, sperrt man die Türen üblicherweise ab. Ich glaube nicht, dass es klug von unseren Partnern ist, die Fenster und Türen offen zu lassen: ohne verlässliche Grenzsicherung, ohne die Fähigkeit, zeitnah zu reagieren, etwa in einer Migrationskrise, und ohne Kapazitäten, um auf Konflikte zu reagieren, selbst wenn diese Möglichkeit hypothetisch erscheinen mag.
Es gibt immer wieder Berichte über Luftraumverletzungen durch Russland im Baltikum.
PABRIKS: Die russischen Jets kommen nicht in den lettischen Luftraum, aber sie fliegen sehr nahe heran, und wir beobachten diese Art von Flügen beinahe jeden dritten Tag. Was uns Sorgen bereitet, und ich denke, es sollte auch unseren EU-Partnern Sorgen bereiten, ist, dass das russische Militär an der Grenze Russlands zum Westen – also an der Grenze zum Baltikum und zu Polen – in den vergangenen zehn Jahren um ein Vielfaches verstärkt wurde. Wir sehen in militärischer Hinsicht eine enorme Assymmetrie in der Region, die aus sicherheitspolitischer Sicht bedenklich ist.
Sie meinen die Iskander-Raketen in Kaliningrad?
PABRIKS: Ich meine alles. Die Iskander-Raketen, die paramilitärischen Spezialtruppen, Helikopter und anderes. Ich glaube nicht, dass die Russen sich fürchten müssen vor den Militärkontingenten, die die Nato im Baltikum stationiert hat, weil deren Größe wirklich gering ist. Für mich stellt sich die Frage: Warum militarisiert jemand seine Grenzregion in so massivem Ausmaß, wie Russland das tut? Und ich glaube nicht, dass Moskau darauf eine gute Antwort hat.
Was ist Putins Ziel? Er wird doch nicht ernsthaft einen Konflikt mit der Nato beginnen wollen.
PABRIKS: Ich fürchte, dass im Falle eines Krieges mit Russland alle nur verlieren können. Ich kann nicht sagen, was in den Köpfen der Machthaber im Kreml vorgeht. Allerdings, wenn man sich ansieht, wie überrascht der Westen reagierte, als Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, mit der Besetzung der Krim, die ein souveränes Territorium der Ukraine ist, sieht man, dass niemand diesen Angriff erwartet hatte. Wir können nur hoffen, dass sich Russland nicht noch einmal unbedacht in ein solches Unterfangen begibt, aber wir können uns diesbezüglich nicht nur auf Gott und das Schicksal verlassen, wir müssen uns auch auf uns selbst verlassen können.
Das bedeutet Sie würden sich mehr Nato-Streitkräfte hier in Lettland wünschen?
PABRIKS: Solange so eine deutliche militärische Asymmetrie an der EU-Außengrenze vorliegt, müssen wir meines Erachtens eine angemessene militärische Verstärkung in unserer unmittelbaren Nähe haben – um einen Konflikt von vorne herein zu vermeiden. Weil ein Gleichgewicht der Kräfte dafür einfach das beste Mittel ist.
Aber die Nato hat doch einiges unternommen, um ihre Präsenz zu verstärken.
PABRIKS: Sicherlich. Aber es geht nicht nur darum, hier Soldaten zu stationieren. Es geht auch um die generelle Zusammenarbeit, Planung, um die Einsatzbereitschaft – auch darum, politisch vorbereitet zu sein: bereit zu sein, zu handeln, wenn es notwendig ist. Und ein militärischer Gegner wird nicht einfach nur die Soldaten am Boden abzählen. Er interessiert sich auf dafür, was in den Köpfen der Politiker vorgeht, um einzuschätzen, was diese Politiker im Krisenfall unternehmen werden. Er schaut darauf, in welchem Zustand sich deren Militärkräfte befinden. Und es tut mir leid, das sagen zu müssen: Die Militärkräfte vieler EU-Staaten sind extrem schwach. Weil die Länder nicht ins Militär investieren wollen - das kennen Sie aus Ihrem eigenen Land. Die Öffentlichkeit wünscht sich meistens lieber Investitionen in den Straßenbau, in Spitäler und Schulen. Das sind selbstverständlich alles berechtigte, richtige und wichtige Anliegen. Aber das bedeutet nicht, dass man darauf vergessen sollte, in der Lage zu sein, im Bedarfsfall die eigene Tür abzusperren.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass Russland die russisch-stämmige Bevölkerung in Lettland instrumentalisieren kann, wie es in der Ukraine der Fall war?
PABRIKS: Dieses Risiko ist gering. Viele der ethnischen Russen, die hier leben, kamen als Einwanderer während der Sowjetzeit hierher. Sie sind hier recht gut verwurzelt, und sie sind gerne hier – sie möchten nicht woanders hin. Ja, einige von ihnen mögen mit der Regierung in Moskau sympathisieren – aber sie möchten nicht dort leben. Ich habe den Eindruck, sie denken mehr über ihre Zukunft hier in Europa nach.
Wie könnte der Krieg in der Ukraine beendet werden?
PABRIKS: Die Lösung ist vollkommen klar: Russland muss akzeptieren, dass die Ukraine ein unabhängiges Land ist und das Recht hat, frei und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Ganz gleich wie Österreich oder Lettland.
War es ein Fehler, dass die Nato der Ukraine eine Mitgliedschaft angeboten hat?
PABRIKS: Wann hat denn die Nato der Ukraine eine Mitgliedschaft angeboten? Von einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato sind wir Lichtjahre entfernt. Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass gingen keineswegs deswegen los, weil die Nato eine Mitgliedschaft angeboten hätte. Er begann, weil die Ukraine beschlossen hatte, einen Handelsvertrag mit der Europäischen Union abzuschließen. Wenn sich die Ukraine sicher fühlt, wird sie nicht einmal darüber nachdenken, sich der Nato anzuschließen. Und selbst wenn Kiew beitreten wollte, wissen wir, dass das nicht möglich ist, weil die Ukraine darauf nicht vorbereitet ist.