Es ist wie in jedem Epizentrum: Irgendwie sind sämtliche Regeln außer Kraft gesetzt. Man ist hier offenbar immer mit etwas Wichtigerem beschäftigt als mit Vorgaben und Einschränkungen. Wer in der Grazer Zinzendorfgasse einbiegt, sollte also gewarnt sein: Achtung, Sie befinden sich in der Aorta der Studentenstadt Graz. Dass es hier geschäftig zugeht, ist untertrieben, in Wahrheit scheint hier sogar die Verkehrsordnung keine Gültigkeit zu haben. Hier macht scheinbar jeder, was er will. Aber das ist die Aura, die zu solchen Orten wie Universitäten dazugehört: Ohne das Quäntchen Chaos, Zufall und gedanklicher Schwerelosigkeit würde man schlichtweg am Boden bleiben. Und wer will schon die Zukunft ohne Visionen denken? Laura Taferner ziemlich sicher nicht, und nicht umsonst treffen wir uns hier mitten in der Zinzendorfgasse. Was sofort auffällt: Sie ist jemand, der bei dem Wort Europa nicht die Augen genervt nach oben verdreht, sondern vielmehr die Mundwinkel nach oben zieht und lächelt. Nein, falsch. Sie strahlt. Und wie.
Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass die heute 24-jährige Psychologiestudentin allein nach Italien aufgebrochen ist. Ein Auslandssemester mit Erasmus in Padua sollte es werden. Erasmus, diese moderne EU-Version der Grand Tour, die seit über 30 Jahren europäischen Studenten den Gedanken von Europa näher bringen will. Dieses Europa, an dem im Moment die Fliehkräfte in alle Richtungen ziehen, dass man schon Angst haben muss, dass es zerreißt. Dieses Europa, das im Moment eines ist: zerstritten und verunsichert.
Laura Taferners Resümee nach ihrer Zusammenarbeit mit Europa schaut hingegen ein bisschen anders aus: „Man kommt mit so einem Gefühl der Stärke, mit so einer Selbstsicherheit zurück. Man spürt selbst, dass man eine Veränderung durchlebt hat. Ich bin immer noch beseelt davon.“
Ist das ein junger Blick auf Europa, ein Blick, der daraus resultiert, dass man aufwächst, ein Europa ohne Grenzen zu kennen? Ganz so einfach ist es nicht, denn die bloße Freiheit allein, bringt einem Europa zwar physisch näher, eine Annäherung an den Nukleus Europa muss das aber nicht zwangsläufig mit sich bringen: „Um Europa aktiv zu spüren, muss man auch aktiv reinhören. Wenn man passiv ist, merkt man nicht viel“, so Taferner.
Das mag zunächst einfach klingen, aber man steht schnell vor der größten Hürde, die es zu überwinden gilt: man selbst. „Ich bin in Graz geboren, bin hier zur Schule gegangen, studiere hier, bin hier eingebettet. Die Herausforderung war, hier alles für ein paar Monate zurückzulassen.“ Natürlich, es ist ein Grenzgang mit Sprungtuch, den Erasmus ermöglicht, aber es ist eine Erfahrung, die man machen muss, um die Grundidee hinter Erasmus zu erleben: Vielfalt als Chance und nicht als Bedrohung für die eigene Identität zu erkennen. „Das bringt Erasmus mit sich, du kommst allein an einen Ort, suchst dir einen neuen Kreis und plötzlich entstehen daraus ganz tiefe Freundschaften.“ Wobei ein Erasmus-Studium nicht an den Grenzen Europas Halt macht: Laura Taferners Freundeskreis reicht seitdem von Italien, Deutschland, Großbritannien über Thailand bis auf die Philippinen. War die Vorfreude noch mit einem mulmigen Gefühl durchzogen, ist die Freude danach, die wir wohl besser durch den Begriff Nachhaltigkeit ersetzen wollen, groß: „Wir waren komplett multikulti durchgemischt und das ist schon ziemlich cool, weil man viel Neues daraus lernt.“
Zwei Monate vor Studienbeginn hat sich die 24-Jährige Zeit genommen, um ihre neue „Heimatstadt“ Padua zu erkunden und dabei immer wieder auch die Unterschiede zu Österreich abzuklopfen. „Die Polizei war sehr präsent, es wurde stark patrouilliert. Bei mir hat das ein Gefühl der Unsicherheit ausgelöst. Die Italiener hingegen fühlen sich so sicherer.“ Auch die Flüchtlingsproblematik war spürbar: „Man hat gemerkt, dass viele Flüchtlinge dort waren, vor allem an neuralgischen Punkten wie etwa dem Bahnhof. Das ist mit Österreich überhaupt nicht vergleichbar.“ Wie sieht sie die derzeitige Lage in Europa? „Um stark zu sein, braucht Europa eine gemeinsame Flüchtlingspolitik.“ Aber das ist ihr zu wenig: „Wir brauchen auch eine gemeinsame Integrationspolitik“.
Gemeinsam, das ist ein Wort, das Laura Taferner gerne verwendet. Nicht zuletzt, weil sie eine weitere Version des Gefühls in Italien nicht nur gespürt, sondern auch gelebt hat – in einer italienischen Wohngemeinschaft: „Die Leute sitzen gemeinsam draußen, tratschen miteinander, essen gemeinsam. Das beisammen sein ist ihnen am wichtigsten. Das wird hier in Österreich leider nicht so gelebt, was schade ist.“
Der Blick auf das Fremde, der ist immer auch ein Blick auf das Eigene. Auch diese Erfahrung hat die 24-jährige Psychologiestudentin durch den Kontakt mit anderen Kulturen mitgenommen. „Ich glaube, man lernt es erst wertzuschätzen, was man hat, wenn man wo anders war. Ich weiß, ich habe hier viele Freiheiten und habe Anspruch auf ein System, das mich unterstützt – gerade auch, was das Studium betrifft. Aber diese Selbstverständlichkeit merkt man oft erst, wenn man sich mit anderen austauscht.“ Selbstverständlichkeit, das klingt sehr nach Selbstbedienungsladen, der immer nur gibt, aber nie nimmt. So in etwa ist das auch mit der Akzeptanz der EU durch ihre Bewohner: „Das Problem ist, dass wir alle so verwöhnt sind. Wir leben in Frieden. Wir haben viele Freiheiten, eine gemeinsame Währung, keine Grenzkontrollen,“ so Taferner. Dabei hätte man mit dem Brexit einen ersten Vorgeschmack bekommen, wie fragil das Konstrukt Europa sei.
Das Grundproblem spricht die 24-Jährige ganz offen: „Das Problem ist, dass sich die Wenigsten als aktive Europäer sehen. Die EU müsste daran arbeiten, dass alle Mitgliedsstaaten sich als Europäer begreifen und nicht als Österreicher oder Italiener.“ Doch wie kann man verhindern, dass sich jede Nation als „Hortus conclusus“, als eine Art abgeschlossenes Paradiesgärtlein begreift? „Man muss schon in der Schule damit anfangen. Es muss selbstverständlich sein, dass wir alle Europäer sind, dass wir zusammenhalten müssen und das nicht nur innerhalb eines Landes.“
In weniger als drei Wochen macht sich Laura Taferner nach Bonn auf. Dort triff sie ihren Erasmus-Freundeskreis wieder. War in der Zwischenzeit Funkstille? Natürlich nicht, denn wir leben längst auch in einer virtuellen Welt ohne Grenzen. Vielleicht sollten wir Europa auch so sehen: Als offenen Quellcode, als Zukunftsprogramm, an dem wir alle mitarbeiten können.