Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán will den EU-Bürgern das Recht zur Wahl der Europaabgeordneten nehmen. „Wir sollten erwägen, zum früheren System zurückzukehren, bei dem die nationalen Parlamente ihre Vertreter in das Europäische Parlament entsenden, anstatt Direktwahlen durchzuführen“, sagte Orbán in einem Gespräch mit Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), das die „Presse am Sonntag“ veröffentlichte. Schüssel ließ die Aussage Orbáns unwidersprochen.
Europaparlament ist ein „Tollhaus“
„Einer der Gründe für unsere Schwäche ist, dass das Europäische Parlament heute nicht funktioniert. Es ist ein Tollhaus“, begründete Orbán seinen Vorschlag. Das Europaparlament wird seit dem Jahr 1979 in direkter Volkswahl bestimmt und ist die einzige EU-Institution mit einer entsprechenden unmittelbaren demokratischen Legitimation. Die 720 EU-Abgeordneten, die Anfang Juni neu gewählt werden, bestimmen gemeinsam mit Vertretern der 27 EU-Regierungen über europäische Gesetze. Während Orbán im Kreise der EU-Regierungen regelmäßig die Vetokarte zu spielen versucht, sind die 13 EU-Abgeordneten seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei im Europaparlament marginalisiert. Seit ihrem Abgang aus der Europäischen Volkspartei (EVP) suchen sie erfolglos Anschluss an eine der drei europaskeptischen oder rechtspopulistischen Fraktionen.
Orbán sprach sich im Gespräch mit Schüssel dafür aus, dass die „Initiative“ in der Europäischen Union von den Mitgliedsstaaten ausgehen solle, „was bedeutet, dass der Rat aktiver, entschlossener und stärker dazu bereit sein sollte, politische Maßnahmen zu ergreifen“. Auch die EU-Kommission solle „erkennen, dass sie ein von den Mitgliedstaaten, repräsentiert durch den Rat, geleitetes Organ ist, nicht ein politisches“, so Orbán, dessen Land im zweiten Halbjahr den EU-Ratsvorsitz innehaben wird.
Fokus auf westlichen Balkan
Befragt zu den Prioritäten des ungarischen Ratsvorsitzes nannte Orbán die EU-Erweiterung um die westlichen Balkanländer als „unsere oberste Priorität“. „Wenn wir Serbien nicht so schnell wie möglich integrieren, werden wir es verlieren. Serbien hat andere Möglichkeiten. Es hat gerade ein Freihandelsabkommen mit China abgeschlossen.“ Ungarn werde auch daran arbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verbessern. Zur Ukraine sagte er: „Wir werden unser Bestes tun, um zumindest einen Waffenstillstand zu erreichen und eine Situation zu schaffen, in der wir verhandeln können.“
Ukraine soll zur „Pufferzone“ werden
Diesbezüglich legte Orbán seine bekannten Standpunkte dar. So verbat sich der ungarische Premier einen von Schüssel gemachten Vergleich mit dem Ungarn-Aufstand des Jahres 1956. „Sie verteidigen Europa nicht, im Gegensatz zu Ungarn damals. Die Ukraine bietet uns Europäern keine zusätzliche Sicherheit, denn die meisten von uns sind bereits Mitglied der NATO, die viel stärker ist als Russland. Es besteht keine Gefahr, dass Russland ein NATO-Mitglied angreift“, sagte Orbán.
„Russland wird niemals ein EU- und NATO-Mitglied wie die Ukraine vor seiner Haustür akzeptieren. Nie“, sagte der ungarische Regierungschef. Diesbezüglich sieht er den Zug für Kiew bereits seit 16 Jahren abgefahren. Bis 2008 sei Russland zu schwach gewesen, eine NATO-Erweiterung in Richtung der Ukraine zu blockieren. „Diese Chance wurde jedoch auf dem NATO-Gipfel in Bukarest nicht genutzt. Wir versäumten es, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Georgien erfolgreich abzuschließen, wodurch die Perspektive der Ukraine als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union und der NATO verloren ging.“ Heute sei „die beste Perspektive“ für die Ukraine, eine „Pufferzone zwischen Russland und dem Westen“ zu bilden. „Wenn das nicht gelingt, wird die Ukraine ihr Land verlieren. Die Russen werden die Ukraine wieder und wieder und wieder zerstören“, so Orbán, der sich offenbar nicht vorstellen kann, dass der Aggressorstaat Russland zu alter Schwäche zurückfinden kann.