Bei ihrer Gegenoffensive haben die ukrainischen Streitkräfte nach Angaben des Brigadegenerals Oleksander Tarnawskyj in der Region Saporischschja die erste und stärkste von mehreren russischen Verteidigungslinien durchbrochen. Die ukrainischen Verteidiger befänden sich jetzt zwischen der ersten und der zweiten Verteidigungslinie der Russen im Süden, sagte der Kommandeur der im Gebiet Saporischschja eingesetzten Truppen in einem Interview des "Observer".
Allein an der ersten Linie hätten die Russen 60 Prozent ihrer Ressourcen und Zeit aufgewendet, sagte er. Tarnawskyj, der das Interview mit der Sonntagsausgabe der britischen Zeitung "The Guardian" auch in seinem Telegram-Kanal verlinkte, sagte auch, dass bei den Verteidigungslinien zwei und drei nur noch je 20 Prozent der Ressourcen zu erwarten seien. Die Ukrainer bewegten sich derzeit auf die zweite Linie zu, sagte er. Die Gegenoffensive war lange Zeit durch ein riesiges Minenfeld in der Region erschwert worden. Die Entminung sei vor allem nachts erfolgt, sagte Tarnawskyj.
Im Gebiet Saporischschja hatte die ukrainische Armee zuletzt bei Robotyne nach wochenlangen Kämpfen russische Verteidigungsanlagen überwunden. Nun soll die nächste russische Linie angegriffen werden, die den Weg in die besetzten Städte Tokmak und Melitopol versperrt. Ziel ist, das etwa 90 Kilometer entfernte Asowsche Meer zu erreichen und die russischen Truppen voneinander abzuschneiden.
Lage an der Front verschlechtert sich für die Russen
Die ukrainischen Streitkräfte melden seit Tagen Fortschritte in der Region, über die auch das US-Institut für Kriegsstudien ISW in seiner in Washington am Samstag (Ortszeit) veröffentlichten Analyse schrieb. Dort war auch unter Berufung auf russische Quellen die Rede von Problemen der Moskauer Besatzungstruppen. Für Russland verschlechtere sich die Lage an der Front. Auch im Raum Bachmut im ostukrainischen Gebiet Donezk meldet das ukrainische Verteidigungsministerium immer wieder Geländegewinne im Kampf gegen die russischen Besatzer.
Einen Tag vor einem türkisch-russischen Spitzengespräch über Getreide-Exporte aus der Ukraine gab es indes neue Angriffe auf Donau-Häfen in der Region Odessa. Bei Russlands dreieinhalbstündiger Attacke am frühen Sonntagmorgen seien zwei Zivilisten verletzt und Hafen-Einrichtungen beschädigt worden, erklärte die ukrainische Luftwaffe auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. Die Donau-Häfen sind derzeit die Hauptroute für ukrainische Getreide-Ausfuhren, nachdem Russland im Juli aus einem von der Türkei und den UN vermittelten Abkommen für sichere Exporte über das Schwarze Meer ausgestiegen war. Am Montag ist ein Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Russlands Staatschef Wladimir Putin geplant.
Frage der Getreide-Exporte
Bei der Begegnung in der russischen Schwarzmeer-Stadt Sotschi wird es Insidern zufolge vor allem um die Getreide-Exporte gehen. Die Regierung in Ankara versucht, Putin zur Rückkehr zu der bis Juli noch mehrmals verlängerten Vereinbarung zu bewegen. Russland drohte nach seinem Ausstieg damit, Getreide-Schiffe im Schwarzen Meer als Angriffsziele zu betrachten. Die Ukraine verlagerte viele Ausfuhren daraufhin auf die Donau, richtete aber im Schwarzen Meer auch einen Korridor für sichere Transporte ein. Diesen Seeweg passierten laut Präsident Wolodymyr Selenskyj inzwischen zwei weitere Schiffe. Nach Angaben ukrainischer Behörden fuhren bereits am Freitag zwei Schiffe durch den Korridor.
Bei den Angriffen auf Donau-Häfen im Großraum Odessa habe Russland am Morgen 25 Shahed-Drohnen aus iranischer Produktion eingesetzt, von denen 22 abgeschossen worden seien, erklärte die ukrainische Luftwaffe. "Russische Terroristen greifen weiter Hafen-Infrastrukturen an, in der Hoffnung, eine Nahrungsmittelkrise und eine Hungersnot in der Welt zu provozieren", schrieb Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak auf Telegram.
Die ukrainischen Behörden machten keine Angaben darüber, welche Hafenanlage getroffen wurde. Das Militär teilte mit, dass ein durch den Angriff entfachtes Feuer schnell gelöscht werden konnte. Einige ukrainische Medien berichteten von Explosionen in Reni, einem der beiden großen ukrainischen Häfen an der Donau. Reni und auch der andere Donau-Großhafen Ismajl wurden in den vergangenen Wochen wiederholt von russischen Drohnen angegriffen. Zu dem jüngsten Vorfall gab es zunächst keine Stellungnahme aus Moskau. Die Berichte konnten nicht unabhängig überprüft werden.