Moskau und Kiew werfen sich gegenseitig vor, einen Anschlag auf das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine vorzubereiten. Der ukrainische Generalstab schrieb in seinem täglichen Lagebericht über angebliche Sprengkörper auf dem Dach des AKW. Dagegen behauptet Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau, die Gefahr einer "Sabotage vonseiten des Kiewer Regimes ist groß".
Beide Seiten warnen vor einer Katastrophe. Einige Fragen und Antworten zur aktuellen Lage um Europas größtes Kernkraftwerk.
Wie ist die allgemeine Lage im AKW Saporischschja?
Das mit sechs Reaktoren größte AKW Europas liegt im umkämpften Gebiet Saporischschja, das teils von der Ukraine, teils von Russland kontrolliert wird. Die Reaktoren sind schon seit September 2022 heruntergefahren. Russische Truppen haben die Nuklearanlage in der Stadt Enerhodar bereits kurz nach Kriegsbeginn im März vergangenen Jahres besetzt. Immer wieder warfen sich die Kriegsparteien gegenseitig Beschuss der Anlage vor. Warnungen vor einem möglichen Kontrollverlust und einer nuklearen Katastrophe gibt es seit Langem.
Angesichts der weltweiten Aufmerksamkeit ließ Russland im vergangenen Jahr Inspektionen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) zu. Seither halten sich dort dauerhaft Experten auf, um die Lage zu überwachen. Der Chef der ukrainischen Atomaufsicht, Oleh Korikow, sagte der Deutschen Presse-Agentur Mitte Juni in Kiew, die Lage sei "extrem gefährlich". Insgesamt seien noch 300 Mitarbeiter in dem AKW unter russischer Besatzung tätig.
Nach Angaben der ukrainischen Armee hat sich die Lage wieder etwas beruhigt. "Die Spannungen lassen allmählich nach", sagte eine Armeesprecherin am Donnerstag. Dies sei den militärischen und diplomatischen Bemühungen Kiews sowie den ausländischen Partnern der Ukraine zu verdanken, die ebenfalls "Druck auf Russland ausgeübt" hätten.
Wie ist die militärische Situation um das Kraftwerk?
Die Ukraine hat im Gebiet Saporischschja ihre militärischen Aktivitäten als Teil ihrer Großoffensive zur Rückeroberung ihrer Regionen massiv ausgeweitet. Auch das AKW soll befreit werden. Etwa 50 Kilometer östlich der Kraftwerksstadt Enerhodar verläuft aktuell die Frontlinie zwischen ukrainischen und russischen Truppen, an der auch intensiv gekämpft wird.
Große Frontverschiebungen hat es dabei seit Längerem nicht gegeben. Ukrainische Einheiten könnten jedoch auch einen Vorstoß über den ausgelaufenen Kachowka-Stausee wagen. Die Entfernung zum anderen Ufer betrug bereits vor der Zerstörung des Kachowka-Staudamms vor einem Monat weniger als fünf Kilometer. Russen und Ukrainer lieferten sich zudem mehrfach Artillerieduelle über den Fluss Dnipro in AKW-Nähe. Dabei gab es auch Einschläge auf dem Kraftwerksgelände.
Wie ernst sind die gegenseitigen Warnungen und Drohungen zu bewerten?
Nach ukrainischen und russischen Angaben ist die Lage gespannt. Auch die IAEA ist besorgt. Der Berater beim russischen AKW-Betreiber Rosenergoatom, Renat Kartschaa, behauptet, Kiew plane einen Terroranschlag, um die internationale Aufmerksamkeit für den Krieg zu erhöhen. Ziel Kiews sei es, unter dem Vorwand einer atomaren Bedrohung für ganz Europa die "rechtlichen Schleusen" zu öffnen für einen direkten Eingriff der Nato und des Westens in den Krieg.
Allerdings hat die Ukraine aus Sicht von Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München, nicht die Fähigkeiten, das AKW von außen zu sprengen. Eine solche "Sprengung ist extrem kompliziert", sagte er am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Russland hingegen könnte mit einer Sprengung an dem von Moskaus Truppen kontrollierten AKW "Chaos stiften".
Wie ist aktuell die Kühlwasser-Situation nach der Staudamm-Zerstörung?
Wegen des zerstörten Kachowka-Staudamms ist auch die Versorgung des Kraftwerks mit Wasser beeinträchtigt. Der Versorgungskanal kann dem Kühlteich kein Wasser mehr zuführen. Der Wasserspiegel des Teichs geht laut IAEA derzeit täglich etwa um einen Zentimeter zurück. Der Wasserstand liege gerade bei über 16 Metern und garantiere das Funktionieren des Kühlsystems für mehrere Wochen. Nach Angaben der russischen Kraftwerksverwaltung befinden sich vier Blöcke in "Kaltbetrieb" und ein weiterer in Abschaltung zur Reparatur. Block fünf hingegen sei weiterhin in "Warmabschaltung" und benötigt daher stärkere Kühlmaßnahmen. Der ukrainische Betreiber Energoatom hatte eine "Kaltabschaltung" angeordnet, da ein bisher wenig wahrscheinlicher kompletter Ausfall des Kühlsystems zu einem Atomunfall führen könnte.
Wie groß ist die Gefahr, die von dem Kraftwerk ausgeht?
Die Druckwasserreaktoren sowjetischer Bauart sind durch eine dicke Stahlbetonschicht geschützt. Damit sollen sie sowohl den Absturz von kleinen Flugzeugen als auch Explosionen im Inneren überstehen können. Damit wäre auch eine ernsthafte Beschädigung durch Sprengsätze oder Artilleriebeschuss nur schwer möglich.
Durch Beschuss gefährdet ist jedoch das unweit der Reaktoren befindliche Atommüllzwischenlager. Über 170 Behälter aus Beton stehen unter freiem Himmel und würden einem Artillerieangriff kaum standhalten. Radioaktivität könnte bei einem Treffer eines Behälters freigesetzt werden. Die Folgen wären dabei jedoch örtlich begrenzt.
Bereitet sich Österreich auf eine atomare Katastrophe vor?
Im Ernstfall ist die Abteilung Strahlenschutz im Umweltministerium für den Schutz Österreichs vor Auswirkungen von nuklearen Zwischenfällen zuständig. Dazu überwacht das Ministerium rund um die Uhr alle relevanten Messwerte und Vorkommnisse und ist in ständiger Abstimmung mit den Behörden der österreichischen Nachbarländer, der EU und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA).
Was die Gefahr durch das 1300 Kilometer entfernte AKW Saporischschja betrifft, so sagte Verena Ehold, Leiterin Strahlenschutzabteilung, bereits im März 2022, dass hier selbst im "allerschlimmsten Fall" für Österreich nur landwirtschaftliche Maßnahmen notwendig gewesen wären, die Einnahme von Jodtabletten wäre hingegen in keinem Szenario notwendig. Das Gesundheitsministerium wies damals darauf hin, dass es auch im Falle einer nuklearen Katastrophe "aller Voraussicht nach keine Notwendigkeit gebe, im ganzen Land Kaliumiodid-Tabletten einzunehmen. Eine Einnahme würde selbst in grenznahen Fällen nur in den am stärksten betroffenen Gebieten erforderlich sein", hieß es in dem Statement. In einem solchen Fall geben die Gesundheitsbehörden bekannt, welche Personen Kaliumiodid-Tabletten einnehmen sollen und in welchen Regionen eine Einnahme notwendig ist. Der Krieg in der Ukraine erfordere jedenfalls "keine Bevorratung von Kaliumiodid-Tabletten für Privatpersonen", betonte das Ministerium.
In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass das Gesundheitsministerium aus Vorsorgegründen bereits seit Anfang der 90er-Jahre Kaliumiodid-Tabletten für die Bevölkerung beschaffe. Personen über 40 Jahre sollten Kaliumiodid-Tabletten jedenfalls nicht einnehmen, da ihr Risiko, an strahlenbedingtem Schilddrüsenkrebs zu erkranken, sehr gering, jenes von schweren Nebenwirkungen durch die Jodzufuhr aber hoch ist, informiert das Gesundheitsministerium auf seiner Internetseite.
Wie ist die Haltung der Internationalen Atomenergiebehörde?
Die UN-Behörde warnt seit Langem vor den Folgen einer Eskalation. IAEA-Chef Rafael Grossi hat deshalb bei seinen Kontakten mit Moskau und Kiew auf die Einrichtung einer nuklearen Sicherheits- und Schutzzone um das Kernkraftwerk gedrängt. Seit fast einem Jahr sind mehrere IAEA-Experten in Saporischschja stationiert, um unabhängig die Sicherheitslage zu beurteilen. "Wir versuchen, so sichtbar und wirkungsvoll wie möglich vor Ort zu sein, um einen Atomunfall zu verhindern", sagte Grossi.
Was will die Ukraine erreichen?
Atomaufsichtschef Korikow in Kiew fordert wie die ukrainische Regierung internationale Sanktionen gegen Russlands Atomindustrie, um den Druck auf Moskau zu erhöhen, das Kernkraftwerk freizugeben. "In Europa ist die Meinung verbreitet, dass es ohne russische Brennstäbe nicht geht. Ich kann Ihnen aber sagen, dass wir völlig umgestellt haben und ganz ohne russische Technik auskommen. Niemand braucht Russlands Atomtechnik", sagte Korikow der dpa. Das AKW erhält Brennstäbe aus den USA.