Glaubt man Lukaschenko, dann begann das entscheidende Telefonat mit Jewgeni Prigoschin gegen elf Uhr. "Ich habe lange auf ihn eingeredet, sagte am Ende: 'Mach, was du willst! Aber sei hinterher nicht beleidigt. Bei uns steht eine Brigade bereit, um sie nach Moskau zu werfen. Wir werden Moskau verteidigen wie 1941.'" Danach habe Prigoschin erklärt, er würde sich gern mit seinen Kommandeuren beraten.

Gerüchte über schwere Krankheit

Alexander Lukaschenko ist in Hochform. Seit der Kreml vergangenen Samstagabend Lukaschenkos Verlautbarung bestätigte, er habe den ganzen Tag mit Prigoschin verhandelt, feiert der belarussische Staatschef sich als Retter Russlands vor Prigoschin und dem Bürgerkrieg. Er eilt von einem Auftritt zum anderen, gestern Videorede vor dem Forum der Regionen Russlands und Belarus', am Dienstag Arbeitstreffen mit dem Verteidigungsminister, vorher Schulterklappenverleihung für hohe Militärs. 

Lukaschenko, einst Sowchos-Vorsitzender, bläst verbal das eigene Image auf. Dabei galt der 68-Jährige noch vor wenigen Wochen als schwer krank. Nach der Siegesparade am 9. Mai in Moskau war er außerstande, gut 400 Meter vom Roten Platz bis zum Grabmal des Unbekannten Soldaten zu Fuß zu gehen, es wurde über schwere Wirbelsäulenprobleme spekuliert.

Diktator inszeniert sich als Friedensstifter

Jetzt aber strotzt der dick gewordene Hobbyskiläufer vor Wichtigkeit. Er habe Putin überzeugt, mit Prigoschin zu verhandeln, statt dessen Kolonnen "plattzumachen". Und er habe Prigoschin ein Ultimatum gestellt: "Kein Blutvergießen! Wenn du nur einen Menschen tötest, besonders einen Zivilisten, wird es keine Verhandlungen mit dir geben." 

In Wirklichkeit nahm Russlands Luftwaffe die auf Moskau marschierenden Kolonnen Prigoschins mehrfach unter Feuer, die schossen ihrerseits sechs Hubschrauber und ein Flugzeug ab, töteten mindestens 13 Piloten. 

Lukaschenko als "Frontmann"

Vermutlich hat Lukaschenkos Schilderung auch in anderen Punkten wenig mit der Realität zu tun. Das russische Oppositionsportal "meduza.io" zitiert mehrere Kremlbeamte, mit Prigoschin hätten am Putsch-Samstag viele russische Beamte verhandelt. Man habe Lukaschenko als "Frontman" ausgesucht, weil Prigoschin einen Staatsführer als Garanten verlangt habe, Putin aber nicht mit ihm reden wollte. "Lukaschenko liebt PR und hat Gespür für seinen eigenen Nutzen." Deshalb spiele er gern öffentlich die Rolle des Mannes, der Russland vor dem großen Blutvergießen bewahrt hat.

Und jetzt gewährt Lukaschenko dem Wagner-Chef Exil, der offenbar am Dienstag in Minsk eingeflogen ist. "Erfahrungsgemäß wird Lukaschenko versuchen, Prigoschin als Einflusshebel beim Kreml zu nutzen, dort ständig daran erinnern, wie sehr er Moskau geholfen habe", sagt Andrej Kasakewitsch, Direktor des belarussischen Instituts Politytschnaja Sfera. Prigoschin aber werde unter der Kontrolle der belarussischen Sicherheitsorgane wohl wenig Handlungsspielraum haben. 

Prigoschin in Belarus nicht sicher

Allerdings meldete der russische Militärblogger Igor Strelkow, Prigoschin sei gestern wieder zu Verhandlungen nach Russland geflogen, der Wagner-Chef scheint Lukaschenkos Asyl bisher eher als Formalität zu betrachten. Auch weil Prigoschin laut Kasakewitsch in Minsk keineswegs sicher sein dürfte. "Falls Russland seine Auslieferung fordert, wird Lukaschenko versuchen, den Preis hochzutreiben." Aber um Prigoschin konsequent zu verteidigen, hänge der seit 1994 herrschende Lukaschenko zu sehr vom Kreml ab.

Belarus erhielt allein seit 2020 6,7 Milliarden Dollar direkte oder verdeckte Finanzhilfe von Russland, steht mit 8,5 Milliarden Dollar bei ihm in der Kreide. In Minsk wie in Moskau gelten Lukaschenkos freche Sprüche als letztes Privileg eines immer mehr zum Vasallen herabgesunkenen Verbündeten. 

Lukaschenko brüstet sich mit neuen Atomwaffen

Jetzt plaudert Lukaschenko, Wagner-Offiziere könnten künftig seine Soldaten beraten. Und er sei mit seinem Verteidigungsminister einer Meinung: "So eine Abteilung stünde unserer Armee gut zu Gesicht." Noch ist unklar, wie viele Wagner-Söldner nach Belarus kommen werden. Strelkow behauptet, das Gros der Truppe würde in der belarussischen Region Mogiljow sein Lager beziehen. Aber Lukaschenko wird kaum die Milliarde Dollar zahlen können, die das Privatkorps laut Putin im Jahr kostet. 

"Das sind unsere Waffen"

Auf keinen Fall, versichert Lukaschenko, würden Wagner-Söldner die neuen belarussischen Atomwaffen hüten. "Die werden schon bewacht. Von den Russen und von uns." Am Dienstag brüstete Lukaschenko sich auch als neuer Atomwaffen-Machthaber. Nicht Russland allein werde die Frage über den Einsatz der nuklearen Waffen entscheiden. "Das sind unsere Waffen, und wir werden sie einsetzen."

Auch diese Behauptung ist wohl wenig realitätsnah. Seit Putin am 25. März bekannt gab, Russland werde taktische Atomsprengköpfe in Belarus stationieren, betonten Moskaus Offizielle immer wieder, diese blieben ganz unter russischer Verfügungsgewalt. "Russland behält die Kontrolle über die taktischen Atomwaffen, die man auf dem Gebiet des Verbündeten aufstellt", sagte zuletzt Außenminister Sergei Lawrow. Und das am Abend des Putsch-Samstags.