Gestern früh landete nach Angaben der Beobachtergruppe Belaruski Gajun der Privatjet Jewgeni Prigoschins auf einem Militärflugplatz bei Minsk. Der russische Söldner-Führer und gescheiterte Putschist ist offensichtlich in Belarus angekommen. Zuletzt war er am Samstagabend in einem Jeep in Rostow am Don gesehen worden.
Vorher hatte er per Telegram-Audio den Rückzug seiner auf Moskau marschierenden Kolonnen verkündet. Danach war er mehrere Tage verschwunden, gestern Abend meldete er sich mit einem Audio. Wenige Stunden später hielt auch Wladimir Putin, der sich seit Samstagmorgen nicht mehr gezeigt hatte, eine TV-Ansprache.
Versöhnung klingt anders
Prigoschin nahm für sich in Anspruch, er habe Blutvergießen vermieden, Wladimir Putin behauptete dasselbe. Prigoschin versicherte erneut, er habe keineswegs versucht, die Staatsmacht zu stürzen, Putin dagegen warf ihm und den anderen Organisatoren der Revolte wieder Verrat an Land und Heimat vor. Versöhnung klingt anders.
Aber Putin bestätigte seinen Freibrief für alle Söldner Prigoschins: Sie dürften einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abschließen und weiter dienen oder zu ihren Familien zurückkehren. "Wer will, kann auch nach Belarus verschwinden."
Strafverfahren eingestellt
Laut Belaruski Gajun wurden auch gestern keine Militärkolonnen von mehr als zehn Fahrzeugen bemerkt, in denen der umzugswillige Teil der 8000 bis 25000 Wagner-Söldner nach Belarus einreisen könnte. Aber laut der Nachrichtenagentur TASS bestätigte der FSB, man habe das Strafverfahren wegen bewaffneter Rebellion eingestellt. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass Prigoschin und seine Truppe nicht nur glimpflich, sondern erstaunlich gut aus ihrem abgebrochenen Militärputsch herausgekommen sind. Schon spottet der FSB-Veteran und Kriegsblogger Igor Strelkow, Prigoschin werde demnächst "Medaillen für den Marsch auf Moskau" an seine Kämpfer verteilen.
Muss Schoigu gehen?
Die Gegenseite steht schlechter da. Zwar verzichtete Prigoschin in seinem jüngsten Audio auf seine notorische Forderung, Verteidigungsminister Sergei Schoigu müsse zurücktreten. Aber wieder prahlte er: Der Marsch sei eine "Masterclass" gewesen, seine Einheit habe der Armee gezeigt, wie man zu Kriegsbeginn Kiew oder das westukrainische Uschgorod hätte einnehmen können. Danach tauchte Schoigu selbst kurz im Fernsehen wieder auf, bei einem Ministertreffen mit dem Staatschef. Es wird spekuliert, ob Putins seinen Urlaub-Kumpel Schoigu demnächst gegen seinen Ex-Leibwächter Alexei Djumin austauscht. Das wäre ein Sieg für Prigoschin. Aber auch ein Festhalten an Schoigu könnte negativ auf den Präsidenten abfärben. Strelkow und andere Militärblogger bezeichnen den Verteidigungsminister schon als "lahme Ente".
Lukaschenko und Prigoschin
Wie der keineswegs beigelegte Konflikt weitergeht, mag auch von Alexander Lukaschenko abhängen. Der belarussische Staatschef präsentierte sich gestern bei einer Rede in Minsk als Harmonie- und Friedensstifter zwischen Prigoschin und dem Kreml. "Macht keinen Helden aus mir, auch nicht aus Putin oder Prigoschin". Mehrere russische Telegramkanäle schreiben allerdings, der belarussische Präsident habe bei den Verhandlungen am Samstag nur als formal als Mittler fungiert. Aber alle sind gespannt, wie sich Lukaschenkos Verhältnis zu seinem Gast Prigoschin entwickeln wird. Schon befürchten polnische und britische Militärs, Belarus würde zum Aufmarschfeld für Attacken der Wagner-Truppen. Aber noch ist völlig offen, wie viele Söldner tatsächlich zu Prigoschin stoßen werden. Es sei doch nicht schlecht, wenn Wagner-Offiziere kämen und den belarussischen Streitkräften mit ihrem Rat helfen würden, erklärte Lukaschenko. "Man braucht keine Angst vor ihnen zu haben. Und wir sind immer auf der Hut." CNN aber spekuliert, Putin werde Prigoschin in Minsk als Verräter umlegen lassen.
"Russland braucht Sturmtruppen wie Wagner"
In Moskau wird befürchtet, Putins Nöte gingen auch ohne Prigoschin weiter. "Die monatelangen Kämpfe um Mariupol und Bachmut haben gezeigt, dass Russland gegen die ukrainische Straßenkampfverteidigung weiter irreguläre Sturmtruppen wie Wagner oder die DNR-Milizen braucht", sagt ein gemäßigt liberaler Politologe unserer Zeitung anonym. Deshalb blieben auch parallele Feldherren wie Prigoschin unverzichtbar. "Und das Hauptproblem bleibt: Russland bräuchte ewig, um militärisch zu siegen. Aber eine Verhandlungslösung ist nicht möglich, weil unsere Verfassung es verbietet, die annektierten ukrainischen Gebiete zurückzugeben." Wenn der Konflikt nicht eingefroren werde, drohten neue Zusammenstöße der Eliten und blutige Wirren.
Erstmals eingeräumt: Moskau finanzierte Wagner
Gestern suchte Putin im Kreml wieder die Öffentlichkeit, bedankte sich vor Soldaten, Offizieren – und Minister Schoigu. Ihr "Mut und die Konsolidierung der ganzen Gesellschaft" hätten maßgeblich zur Stabilisierung der Lage beigetragen. Putin wiederholt sich jetzt oft, am Montag hatte er im TV "die patriotische Stimmung und die Konsolidierung der ganzen russischen Gesellschaft" als entscheidend bezeichnet.
Erstmals räumte der Kreml-Chef zudem ein, dass die Wagner-Armee komplett vom Staat finanziert wurde. Demnach erhielt die Gruppe von Mai 2022 bis Mai 2023 umgerechnet 930 Millionen Euro.
Tatsächlich machten die Moskauer am Samstag keinerlei Anstalten, für Putin Barrikaden zu bauen – im Gegensatz zum Augustputsch 1991. Die 76,1 % Zustimmung der Bevölkerung für Putins Politik, die das staatliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM vor fünf Tagen bekannt gab, wird er kaum noch auf die Straße bekommen.
Stefan Scholl (Moskau)