Auf beiden Seiten des Dnjeprs, dessen linkes Ufer von russischen Truppen und dessen rechtes Ufer von den Ukrainern kontrolliert wird, wurden nach dem Dammbruch des Wasserkraftwerkes Kachowsk insgesamt etwa 3200 Personen evakuiert, sechs Menschen kamen um, 13 werden vermisst. Die Ukrainer machen die russischen Besatzer für die Sprengung verantwortlich. "Das ist Ökozid", schimpfte Andrej Jermak, Chef des Präsidialbüros. Die internationale Analystengruppe InformNAPALM verglich die Flutkatastrophe mit dem Einsatz einer taktischen Atombombe von fünf bis zehn Kilotonnen Sprengkraft. Wie bei einem Atomschlag befürchten die Experten verheerende Langzeitfolgen.
Öl- und Chemielager, Müllkippen und Friedhöfe überschwemmt
Die Zerstörung des Wasserkraftwerks mit einer Leistung von 335 Megawatt sowie der Ausfall des unteren Dnjeprs als Wasserstraße für Getreideexporte dürften noch die geringsten Schäden darstellen. Seit drei Tagen ergießen sich immer neue Wassermassen aus dem zerstörten Stausee in den Unterlauf des Dnjeprs. Die Fluten verbreiterten den Fluss an seinem niedrigeren linken Ufer um mehrere Hundert Meter, überschwemmten außer Ortschaften auch Öl- und Chemielager, Müllkippen, Friedhöfe. Sie hinterlassen Tausende Tierkadaver und tonnenweise verendete Fische. Außer scharfen Minen werden Umweltgifte und Krankheitskeime bis ins Schwarze Meer gespült und drohen auf dem Weg dorthin Wasser und Böden zu vergiften. Mediziner warnen vor Cholera und anderen Epidemien.
Das Wasser verschwindet
Aber noch schlimmer dürfte sein, dass das Wasser dabei ist, aus der Region zu verschwinden. Der 1955 in Betrieb genommene Stausee war mit einem Fassungsvermögen von 16 Kubikkilometern der größte Süßwasserspeicher in der Südukraine mit ihren Steppen. Um ihn herum formierten sich Agrarlandschaften und ganze Städte. Künftig könnte sein sandiger Grund Sandstürme nähren. "Wir bekommen eine neue Wüste", fürchtet die Ökologin Ljudmila Zyganok. In Kombination mit den steigenden Temperaturen könnten "die Felder in der Süd- und Zentralukraine austrocknen". Das droht auch dem Nordkrimkanal zur Krim und dem Kachowsker Magistralkanal, der Trinkwasser nach Melitopol und Berdjansk brachte. Und dem Dnjepr-Kriwbas-Kanal, der die 630.000-Einwohner-Stadt Kriwyj Rih und ihre Industriebetriebe zu 70 Prozent mit Wasser versorgte.
"Müssen zum Trockenfeldbau zurückkehren"
Nach einem Modell vom Naturschutzministerium vom letzten Februar werden über eine Million Ukrainer ohne Wasser bleiben, wenn der Pegel im Stausee unter 13,1 Meter fällt. Gestern lag er schon unter 12 Metern. Zyganok sagt 1,5 Millionen ukrainische Klimaflüchtlinge voraus. Auch agrarisch steht die Region vor katastrophalen Veränderungen. Nach Angaben des exilrussischen Portals Meduza bewässerte der Kachowsker Stausee 584.000 Millionen Hektar sehr ertragreicher Agrarfläche. Das Naturschutzministerium rechnet mit 14 Prozent weniger Weizenexporten, wenn der Pegel im Stausee auf unter 14,5 Meter fällt. Noch sind all diese Zahlen Prognosen und keine Erfahrungswerte. Die tatsächlichen Folgeschäden werden erst in Monaten abzusehen sein.
Aber optimistisch ist kaum jemand. Experten befürchten, dass allein in der Chersoner Landwirtschaft bis zu 200.000 Menschen ihre Arbeit verlieren. "Wir werden zum Trockenfeldbau zurückkehren müssen", befürchtet Valentin Sidorenko, Chef der Agrarfirma "SiNa". Eine Anbaumethode, mit der auch Bauern in Afghanistan gegen Dürren kämpfen.