Die russischen Besatzer haben die Evakuierung von Gebieten nahe der Front in der südukrainischen Region Saporischschja angekündigt. Betroffen seien 18 Siedlungen, teilte der von Russland eingesetzte "Gouverneur" Saporischschjas, Jewgeni Balizkij, am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax mit. Als Begründung nannte er den verstärkten Beschuss des Gebietes durch die ukrainische Seite. Russland hält vier Fünftel der Region besetzt.
Seit Wochen wird erwartet, dass die Ukraine mit einer Gegenoffensive zur Rückeroberung weiterer besetzter Gebiete beginnt. Im vergangenen Herbst war in der Südukraine bereits die Großstadt Cherson nach einem russischen Rückzug an Kiew gefallen. Die Region Saporischschja gilt nach Einschätzung von Experten als wahrscheinlichstes Angriffsziel, weil die dort liegende Stadt Melitopol als Achillesferse der russischen Landverbindung zwischen der Halbinsel Krim und der Ostukraine gilt.
Wagner-Chef schimpft gegen Moskaus Militärführung
Der Chef der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, hat einen Rückzug seiner Truppen aus der seit Monaten umkämpften Stadt Bachmut im Osten der Ukraine angekündigt. Grund sei ein Mangel an Munition, an dem das Verteidigungsministerium in Moskau schuld sei, teilte Prigoschin am Freitag mit. Seine Söldnertruppe werde sich deswegen am 10. Mai in Nachschublager zurückziehen und ihre Stellungen an die russische Armee übergeben.
Schon seit Monaten forderte Prigoschin bessere Unterstützung seitens der Armee, bereits Anfang März hatte er einen Rückzug angedroht und dass die Front in diesem Falle zusammenbrechen würde.
"Feiglinge"
Der Wagner-Chef adressierte die Ankündigung des Rückzugs direkt an den russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu. Seine Einheiten wären "wegen des Mangels an Munition einem sinnlosen Tod geweiht".
Er beschuldigte die Militärführung, die Wagner-Gruppe seit dem 1. Mai absichtlich vom Nachschub an Artillerie-Munition abgeschnitten zu haben, man wolle ihm einen derartigen Sieg verwehren, da Wagner erfolgreicher sei als die Armee. "Sie glauben, sie werden als Sieger in die Geschichte eingehen, aber sie sind jetzt schon als Feiglinge eingegangen", so der sichtlich wütende Mann. "Meine Männer werden keine weiteren sinnlosen und ungerechtfertigten Verluste ohne Munition in Bachmut erleiden", so Prigoschin, ein Sieg in Bachmut sei jetzt "euer Problem".
Militärstratege Markus Reisner: "Effekthascherei"
Im Gespräch mit der Kleinen Zeitung hält Bundesheer-Militärstratege Markus Reisner das Argument der absichtlichen Zurückhaltung der Munition zwar für möglich, aber "er könnte so auch versuchen, Druck aufzubauen, um die nötige Unterstützung zu bekommen, um Bachmut bis zum 9. Mai (Tag des Sieges, ein wichtiger russischer Feiertag, Anm.) einzunehmen". Gleichzeitig würde er damit seine Feinde – Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow an den Pranger stellen und für eine mögliche Niederlage verantwortlich machen. Eine Niederlage mit enormen hohen Verlusten, deren Schuld Prigoschin wohl nicht bei sich sehen möchte.
Reisner zweifelt zudem an der Aussage, dass die Unterstützung aus Moskau völlig ausgeblieben wäre: "Zwei Schwergewichtswaffensysteme werden sehr wohl zu seiner Unterstützung eingesetzt, das ist auf Videos von beiden Seiten zu erkennen. Das sind der TOS-1-Mehrfachraketenwerfer und modifizierte Bomben vom Typ FAB-500." Damit drängt sich für Reisner die Frage auf, "ob das nicht alles Effekthascherei ist".
Militärinterne Machtkämpfe
Eine mögliche weitere Erklärung für den zunehmenden Mangel an Munition könnte die lange erwartete Gegenoffensive sein, auf die sich die Ukraine derzeit vorbereitet. Sie könnte dafür gesorgt haben, dass Moskau Nachschub vermehrt in jene Gegenden liefert, in denen man mit größeren Gegenangriffen rechnet und dadurch für das strategisch weniger wichtige Bachmut zu wenig vorhanden ist. Das hält Reisner zwar für plausibel, ein größerer Faktor seien aber wohl militärinterne Kämpfe um Einfluss. Diesen Einfluss müsse man mit Erfolgen erreichen und für diese wiederum brauche man Ressourcen.
Neben Dutzenden Leichen: "Das Blut ist noch frisch"
In einem anderen Video, das einige Stunden vor der Rückzugsankündigung aufgenommen worden sein dürfte, wetterte Prigoschin noch heftiger gegen die Militärführung Russlands: "Ihr Biester, ihr sitzt in teuren Klubs, eure Kinder haben Spaß am Leben und nehmen Youtube-Clips auf", schrie er in Richtung Schoigu und Gerassimow. In dem Video steht der Wagner-Chef vor Dutzenden auf dem Boden aufgereihten Leichen von Männern in Uniform: "Das sind Wagner-Kämpfer, die heute getötet wurden. Das Blut ist noch frisch."
Die sehr direkten Worte in Richtung Moskau könnten auch auf wachsende Spannungen zwischen Prigoschin und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hindeuten. "Er hat aber Putin nicht direkt angesprochen, aber er ist dennoch der, der politisch letztinstanzlich verantwortlich ist."
Kremlsprecher Dmitri Peskow kommentierte Prigoschins Ankündigung zunächst lediglich mit den Worten: "Wir haben das natürlich in den Medien gesehen. Aber ich kann das nicht kommentieren, weil es den Verlauf der militärischen Spezialoperation betrifft", kommentiert Markus Reisner. Eine Kritik hinter vorgehaltener Hand? Reisner: "Ich würde keine Kritik an ihm sehen, sonst hätte er ihn erwähnt. Es geht ihm um die Militärführung."
Munition wegen Gegenoffensive gebunden
Abzuwarten bleibt, ob die Entscheidung, Wagner aus Bachmut abzuziehen, endgültig ist. Es wäre nicht die erste Drohung, die Prigoschin später relativierte. Die Söldner ziehen sich ihm zufolge am 10. Mai in Nachschublager zurück, um die Stellungen an die russische Armee zu übergeben. Die Kämpfer wollen sich in Basislagern erholen, damit könnte Wagner gegebenenfalls rasch wieder in die Kämpfe eingreifen.
In der Übergabe der Stellungen von Wagner an die russische Armee sieht Reisner einen möglichen Moment der Schwäche, wenn dies überstürzt passiert. Das könnte die Ukraine nutzen, um nachzurücken und Bachmut zurückzuerobern. Kriegsentscheidend dürfte dieser Teil der Front aber nicht sein, "es ist eine Festung der zweiten Linie", sagt Reisner, aber "die Stadt ist mit extrem hoher Symbolkraft aufgeladen".