Erhard Bühler ist ein besonnener Mann. Sachlich, immer an gesicherten Fakten orientiert: So erklärt der ehemalige Nato-General in einem Podcast des MDR alles Militärische rund um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. "Darüber will ich nicht spekulieren", lautet ein Lieblingssatz des Generals a.D. Anfang der Woche jedoch brachen selbst bei Bühler die letzten Dämme gegen die Gerüchteflut. Er habe sich schon gewundert, dass Wladimir Putin das Risiko eingegangen sei, auf die Krim und nach Mariupol zu reisen. Sichere Ziele seien das nicht für einen Präsidenten, erklärte der General und fügte unvermittelt hinzu: "Wenn er es denn selbst war."

Wie bitte – Putin nicht er selbst? Nun ja, erläuterte Bühler seine Skepsis, es gebe "seit Monaten Hinweise, dass Putin in Russland Doubles hat, die ihn vertreten. Das ist auch plausibel, wenn man sieht, wie vorsichtig er zu Zeiten von Corona war. Wie wenige Leute er getroffen hat. Und wenn man sieht, wie in Moskau ganze Straßenzüge abgesperrt werden, wenn er sich da bewegt." Stets seien dann "viele, viele Sicherheitskräfte" im Einsatz. Und nun das: "In Frontnähe, in Partisanennähe, fährt er selbst am Steuer und hat keine Sicherheitsbeamten dabei? Das kommt einem schon sonderbar vor."

Kaum gesichertes Wissen

Das gesicherte Faktenwissen zur Doubletheorie ist allerdings überschaubar. Zu den Indizien zählen zuallererst die Bilder selbst. Vor allem ukrainische Fachleute stellten diverse Fotos ins Netz, die Putin bei seinen Besuchen auf der Krim und in Mariupol im Profil zeigen. Daneben platzierten sie Aufnahmen aus dem Februar und markierten die Unterschiede. Mal mit, mal ohne Doppelkinn. Hier ohne Fältchen an der Ohrmuschel, dort mit. Aber reicht das? Zweifel am "Beweismaterial" bleiben. Zumal die Lichtverhältnisse bei der Nachtfahrt des angeblichen Putin durch Mariupol miserabel waren.

Überzeugend dagegen klingt das Argument, das auch Bühler plausibel nennt: Der ehemalige Geheimdienstchef Putin vermeidet seit Jahren alle öffentlichen Auftritte, bei denen sein Sicherheitspersonal nicht alles bis ins kleinste Detail kontrollieren kann. Speisen und Getränke werden vorgekostet, berichten Kremlinsider. Als Putin Anfang Februar zum Gedenken an die Schlacht von Stalingrad in die Wolgametropole reiste, verlegten Bauarbeiter sogar die Gehwegplatten neu, um die Sturzgefahr für den Präsidenten zu minimieren.

Und ausgerechnet dieser Putin soll mit einem Hubschrauber von der Krim nach Mariupol geflogen sein, mitten durch ein Kriegsgebiet, in dem jede Bewegung im Luftraum vom Gegner überwacht wird? Nur um sich dann an das Steuer eines Autos zu setzen, ohne Leibgarde durch die Stadt zu fahren und bei Zwischenstopps mit Fremden zu reden? Das glauben auch russische Fachleute nicht. "Wenn ich einen angeblichen Putin in einer Menschenansammlung sehe, weiß ich sofort, dass das ein Doppelgänger ist", erklärt Igor Girkin, ein ehemaliger Oberst des Militärgeheimdienstes GRU, der 2014 die prorussischen Milizen im Donbass anführte.

Gespräch mit Einheimischen

Der nationalistische Hardliner gilt inzwischen zwar als scharfer Putin-Kritiker. Aber dass der Präsidentenbesuch in Mariupol hoch problematisch war, belegen auch die Videoaufnahmen. Bei einem Gespräch mit Einheimischen ist im Hintergrund eine Frauenstimme zu hören: "Das ist alles Lüge, alles für die Show!" Die Szene erinnert an die Protestaktion der russischen TV-Journalistin Marina Owsjannikowa vor einem Jahr. Die Redakteurin hielt kurz nach Kriegsbeginn ein Schild in die Kamera: "Hier werden Sie belogen."

Die Wirkung auf das Publikum verpuffte allerdings. Den Grund dafür sieht der russische Kommunikationsexperte Fjodor Kraschennikow in der Vielstimmigkeit, die zum Wesen der Kremlpropaganda gehöre. Die Staatssender verbreiteten systematisch mehrere Versionen der Wirklichkeit, gerade bei missliebigen Ereignissen. Auf diese Weise gingen die gesicherten Fakten, auf die Erhard Bühler so großen Wert legt, in der Geschichtenvielfalt unter. Am Ende, sagt Kraschennikow, sei deshalb "die Propaganda immer wirksamer als die Wahrheit".