Ende Oktober müssten in der Ukraine Parlamentswahlen stattfinden – mitten im Krieg. Halten Sie diese auf den von Kiew kontrollierten Gebieten für möglich, sind Sie für ihre Durchführung?
JULIA TIMOSCHENKO: Die Zentrale Wahlkommission hat entschieden, dass die Wahlen laut Verfassung am letzten Sonntag im Oktober dieses Jahres stattfinden sollen, aber es wird alles davon abhängen, wie sich die Ereignisse an der Front entwickeln und ob es überhaupt einen Krieg geben wird. Ich möchte, dass die Ukraine gewinnt, dass sie dieses Jahr eindrucksvoll gewinnt, ich denke, dafür gibt es alle Chancen.
Ihre Vaterlandspartei ist heute in der Opposition. Welche Möglichkeiten haben Sie unter den Bedingungen des Kriegsrechts als Partei und als Parteivorsitzende, Ihre Positionen im staatlichen Fernsehen, in den dominierenden Privatsendern und generell in den Medien zu vertreten?
Absolut keine. Leider ist heute die Fernsehinformation völlig monopolisiert. Bis zu einem gewissen Zeitraum bekam ich dort einmal pro Woche fünf bis sieben Minuten Zeit.
Der Verfassung nach ist die Stellung des ukrainischen Präsidenten weit schwächer als die des russischen, obwohl er klar größere Vollmachten hat als der österreichische Präsident. Andererseits hat die Ukraine nun Kriegsrecht, und man hat den Eindruck, dass der Präsident und seine Umgebung die zentralen Faktoren sind, obwohl es auch Regierung und Parlament gibt.
Die ukrainische Verfassung sieht eine parlamentarisch-präsidiale Struktur vor, doch tatsächlich haben wir eine präsidiale Regierungsform: Und diese präsidiale Vertikale ist unkontrollierbar, und es gibt keine Gewaltenteilung. In unserem Land stehen alle Machtstrukturen auf die eine oder andere Weise unter dem Einfluss der "Präsidialvertikale". Wenn die Regierung unkontrolliert ist, kann sie auch unmoralisch sein.
Meinen Sie den Korruptionsskandal mitten im Krieg und im Verteidigungsministerium?
Vor dem Krieg kam es zu keiner umfassenden Institutionenreform, doch der EU und anderen internationalen Organisationen muss man zugutehalten, dass es Änderungen gab. So haben wir: Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention, das Nationale Antikorruptionsbüro Nabu, wir haben ein Antikorruptionsgericht, eine Staatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung, aber solche bruchstückhaften Änderungen lösen das Problem nicht. Wir müssen über eine große institutionelle Reform nachdenken, über eine neue Verfassung, die aus den Tiefen der Gesellschaft kommen muss. Das Ändern von Nachnamen in Positionen löst absolut nichts. Es ist notwendig, das System zu ändern, in dem solche Fälle möglich sind.
Christian Wehrschütz (Kiew)