In einem ironischen Wiegenlied des Kabarettisten und Liedermachers Semjon Slepakow klagt die Mutter eines in der Ukraine gefallenen Kriegsfreiwilligen, dass ihr jüngster Sohn noch viel zu klein ist, um in die Schlacht zu ziehen: „Schlaf mein Kindchen, schlaf ein, nichts kann schöner als der Tod im Kampfe sein.“ Der russische Humor ist traurig und leise geworden. Und oft findet er nur noch in der Emigration statt.
Ein knappes Jahr nach dem Beginn der „Kriegsspezialoperation“ Wladimir Putins in der Ukraine herrscht in der russischen Gesellschaft seltsame Stille. Von Kaliningrad bis Komsomolsk am Amur bewegen sich die Menschen auf der Straße mit betont gelassenen Gesichtern. Die Wirtschaftsstatistiken behaupten stabilen Stillstand, politisch gibt es kaum noch Konflikte. Das Blutvergießen in der Ukraine möchte man im Dornröschenmodus aussitzen. Der unerwartet massive Einsatz von Raketen, Panzerkolonnen und Luftlandetruppen gegen die Ukraine und ihre Hauptstadt Kiew am 24. Februar war auch für viele Russen ein Schock. Aber die Teilnehmer spontaner Straßenproteste wurden massenhaft festgenommen. Die letzten großen Oppositionsmedien mussten ihre Arbeit einstellen.
Zehntausende Russen verließen das Land. Es herrscht Schweigen der Lämmer. Politische Streitkultur oder gar Gegenstimmen in der Staatsduma existieren nicht mehr. Nach der Festnahme Alexej Nawalnys und der Zerschlagung seiner lokalen Stäbe gibt es für Putins Herrschaft keine Herausforderer mehr.
Stefan Scholl (Moskau)