Militärexperten sowie Friedens- und Kriegsfolgenforscher haben ein Jahr nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine Zwischenbilanz gezogen. Auf politischer Ebene sei "eine Verhärtung der Fronten" festzustellen, "in einer europäischen Konfliktordnung statt in einer Friedensordnung", stellte der Vizedirektor des Österreichischen Friedenszentrums Schlaining-Wien, Lukas Wank, bei einer Podiumsdiskussion der Österreichisch-Amerikanischen Gesellschaft fest.
Der Militäranalyst Oberst Berthold Sandtner betonte bei der Veranstaltung zum Thema "Krieg um und in Europa", das neutrale Österreich "muss sich in einer neuen Sicherheitsarchitektur neu aufstellen". Nach den Ausführungen Wanks sei auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz "eine dynamische Sicherheitspolitik sichtbar geworden". Auf politischer Ebene habe unter den teilnehmenden Staaten auch Einigkeit geherrscht bezüglich der "Durchhalteparolen" und der Bereitschaft zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Der Experte des Schlaininger Friedensforschungsinstitutes verwies auf die jüngsten Besuche des US-Präsidenten Joe Biden in Kiew und Warschau und dessen dort geäßerten starken Worte sowie auf die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit seinen "abfälligen Tiraden" und Schuldzuweisungen an den Westen.
Oberst Sandtner vom Österreichischen Bundesheer resümierte zum derzeitigen Stand des Ukraine-Kriegs, die Ukraine habe zuletzt herausragende Erfolge erzielt. Es sei zu einer Art Stellungskrieg gekommen; mit Gebietsverlusten und -gewinnen in geringem Ausmaß. "Die Phase sechs, die große Offensive steht noch bevor." Die Panzerlieferungen an die Ukraine liefen langsam an. Die Mobilmachung erfolge altersmäßig "am oberen und unteren Ende". Die russische Seite wolle eine Großoffensive starten, "doch fehlt es Russland dafür an Motivation". Ebenso werde eine ukrainische Großoffensive auf sich warten lassen.
Dieter Bacher, Forscher am Grazer Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, verwies auf den Frontbericht eines russischen Fallschirmjägers vom Mai 2022, der publik geworden und inzwischen auch in Buchform erschienen ist. Der seit 2007 in der russischen Armee tätige Mann habe festgestellt, dass das russische Militär schlecht ausgerüstet sei, auch in technischer Hinsicht. Fazit des Insiders: Russland war für eine derartige Kriegsoperation schlecht vorbereitet gewesen.
Die polnische Analystin und ehemalige Diplomatin Ewa Martyna-David unterstrich die große Unterstützung, die ihr Land der benachbarten Ukraine geleistet hat. Die Ukraine habe im Warschau "Wunschlisten" vorgelegt. Viel post-sowjetische Ausrüstung sei geliefert worden, aber auch modernes Material. Weiters habe Polen Schulungen für ukrainische Soldaten durchgeführt. Martyna-David wies auch darauf hin, dass die lange Grenze zur Ukraine offen sei, hingegen jene zum Nachbarn Belarus, dem engen Partner Russlands, geschlossen, mit einer Grenzbarriere von 200 Kilometern.
Friedensforscher Wank konstatierte in seiner Analyse, die Welt befinde sich "in zunehmender Unsicherheit". Als Faktoren dafür nannte er nukleare Drohungen und unsichere Lieferketten. In Europa sei "ein sicherheitsgetriebener Diskurs" festzustellen. In Österreich spiele die Neutralität ein große Rolle; für die Zukunft habe Österreich diplomatisch Spielraum. Mit Bezug auf Russland stellte Wank fest: "Ein Machtvakuum droht. Russland kümmert sich nicht um andere Regionen wie Zentralasien." Im Kontext der globalen Ordnung würden auch Probleme des Südens oft wenig beachtet. Die Rolle der USA in Europa habe sich verändert, aber auch China habe sich teilweise umorientiert. Jede Schwäche der USA werde in China registriert.
Nach den Ausführungen des Militäranalysten Sandtner herrscht in puncto Ukraine-Krieg "ein militärisches Betroffenheitsgefälle". So sei deutlich zu erkennen, dass die baltischen Länder nahe am Geschehen sind. Dementsprechend seien diese Staaten "aktiv geworden". Auf eine APA-Frage zu den NATO-Ambitionen Finnlands und Schwedens sagte Sandtner, für Finnland sei dies "eine Zeitenwende". Beim Großteil der Bevölkerung dieser nordischen Staaten gebe es "eine manifeste Bedrohungswahrnehmung". Finnland bringe im übrigen eine starke Armee ein.
Die Frage der Neutralität Österreichs beschäftigte ebenfalls das Podium. Die Neutralität habe heute eine andere Bedeutung als im Kalten Krieg, erklärte der Vertreter des Boltzmann-Instituts. Ob es eine Rückkehr in den Kalten Krieg geben werde, ist laut Bacher derzeit schwer abzuschätzen. Der Militärexperte Sandtner erklärte, Österreich müsse jedenfalls "aktiv werden". Er glaube, "dass wir die Bedrohungen erkennen". Österreich habe inzwischen sein geringes Verteidigungsbudget etwas erhöht. Martyna-David erklärte ihrerseits, in Polen sei eine Aufstockung des Militärbudgets erfolgt.
Nach den Worten Wanks steht Europa vor einer großen Herausforderung bei der Bewältigung des Wiederaufbaus der Ukraine. Derzeit gehe es um "die militärische Antwort auf den Ukraine-Krieg. Doch ein großer Teil der Antwort ist nicht militärisch." Sandtner rechnet mit "einem Frieden, der sehr schwer bewaffnet sein wird". Mit Blick auf Russland, das auf sein Nuklearpotenzial pocht, habe Europa auf nuklearer Ebene neue Herausforderungen zu bewältigen. Auch Österreich habe eine Rolle bei der nuklearen Abrüstung. Bacher schloss aus der Sicht einer Konfliktlösung nicht aus, dass in der Ukraine "ein neuer eingefrorener Konflikt" entstehen könnte.