Ein Jahr nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine merken die Menschen in Russland die Folgen immer stärker auch beim eigenen Einkauf. Laut dem russischen Einzelhandelsverband haben die Russen 2022 fünf Prozent weniger Lebensmittel gekauft als noch im Jahr zuvor. Das bestätigt auch eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungsinstituts WZIOM, wo 35 Prozent der Befragten angaben, sich beim Lebensmittelkauf einschränken zu müssen.
Lacoste, Apple. Samsung
Im Einkaufszentrum "Pawelezkaja Plaza" am Moskauer Pawelezki-Bahnhof geht es am Valentinstag eher gemächlich zu. Nur wenige Kunden tummeln sich in den Restaurants und Geschäften des mehrgeschossigen Neubaus. Dabei ist trotz der Sanktionen nicht alles weg. Unter den Markenläden befinden sich neben dem Bekleidungsgeschäft Lacoste auch ein Apple-Shop und ein Samsung-Laden. Beide Geschäfte bieten das volle Sortiment, obwohl die Konzerne schon im vergangenen Frühjahr den Rückzug aus Russland verkündet haben.
Gerade bei der Computertechnik funktioniert der Grau-Import bestens. Russische Medien berichteten zuletzt, dass sich nach anfänglichen Importproblemen inzwischen mehr als eine Million Notebooks in den Lagern stapeln – und die Verkäufer nun zu Dumpingverkäufen gezwungen seien, um sie loszuwerden.
Auch bei einigen anderen Markenartikeln ist die Umgehung der Sanktionen – oft unter Einschaltung türkischer Firmen – problemlos gelungen. Unter dem Firmenlogo Sneaker Box werden im "Pawelezkaja Plaza" Reebok-Schuhe angeboten. Das Adidas-Geschäft daneben ist freilich geschlossen. Wie viele andere Konzerne hat sich der Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach vom russischen Markt zurückgezogen. Das trifft auch auf Hugo Boss, H&M, Uniqlo und andere Modemarken zu. Wer sich in Russland einrichten will, muss dies nun ohne Obi und Ikea tun. Wer Sport treibt, kann sich nicht mehr bei Decathlon eindecken. Und wer ein neues Auto braucht, hat nur noch die bescheidene Wahl zwischen Lada und 13 chinesischen Fahrzeugmarken.
In vielen Bereichen haben schamlos Kopien das Original ersetzt: Statt Coca-Cola gibt es nun "Dobry Cola", statt MacDonalds die russische Eigenmarke "Wkusno i Totschka". Bei Werkzeugen haben nach dem Rückzug von Bosch und Makita qualitativ minderwertige chinesische Plagiate den russischen Markt überflutet. Die Preise hingegen sind deutlich gestiegen. Offiziell lag die Inflation 2022 bei zwölf Prozent, doch der russische Finanzexperte Maxim Kwascha ist davon überzeugt, dass sie höher war. Teurere und qualitativ hochwertigere Waren seien bei der Berechnung durch Billigprodukte ersetzt worden, sagt er.
Schlechtere Auswahl zu höheren Preisen – so sieht auch die Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch die Lage der russischen Verbraucher. "Unter dieser Krise leidet die urbane, gebildete Mittelschicht am meisten", sagt sie. Während die einkommensschwächsten Gruppen durch Rentenanhebungen und Sozialhilfen für geringverdienende Familien zumindest etwas entlastet worden seien, müsse die Mittelklasse mit Geldentwertung und fallenden Realeinkommen selbst klarkommen.
Viele Branchen, angefangen von der Holz-, Kohle- und Stahlindustrie bis hin zum Automobilbau und dem Dienstleistungssektor, hätten mit deutlichen Rückgängen zu kämpfen, sagt Subarewitsch. Beispielhaft für die Entwicklung steht Juri. Der 42-Jährige war bis Jahresende Immobilienmakler, doch verkauft hat er seit Monaten nichts. "Der Markt ist tot", sagt er. Nun verdient Juri sein Geld als Taxifahrer. "Doch wenn ich davon wirklich ein Auskommen haben will, muss ich täglich 12 bis 14 Stunden am Steuer sitzen, das ist unmöglich", klagt er.
Und es droht weiteres Ungemach: Die seit Dezember von westlichen Industrieländern in Kraft gesetzte Preisbremse für russisches Öl zeigt Wirkung. Der Preis für Öl der russischen Marke Urals wird mit inzwischen rund 40 Prozent Abschlag gegenüber der Nordseesorte Brent gehandelt und kostet derzeit rund 50 US-Dollar pro Barrel (159 Liter). Für das laufende Jahr hat die Regierung eigentlich mit einem Durchschnittspreis von 70 Dollar gerechnet. Im Jänner wies der russische Haushalt daher ein Rekorddefizit von umgerechnet 23 Milliarden Euro auf. Das entspricht bereits 60 Prozent des für das Gesamtjahr veranschlagten Fehlbetrages.
Moskau versucht, den Ölpreis mit Drohungen zu stabilisieren. "Wie vorher erklärt, werden wir diejenigen, die direkt oder indirekt das Prinzip des Preisdeckels nutzen, kein Öl verkaufen. Darum wird Russland ab März freiwillig seine Förderung um 500.000 Barrel pro Tag senken", kündigte Vizeregierungschef Alexander Nowak Mitte Februar an. Doch damit drohen laut Tageszeitung "Kommersant" Einnahmeverluste von 39 Milliarden Euro – und das, während der Angriffskrieg gegen die Ukraine jeden Tag einen größeren dreistelligen Millionenbetrag kostet.
Gold verkauft, bald Unternehmer zur Kassa?
Zuletzt hatte die Zentralbank zur Deckung des Etatlochs schon einen Teil ihrer noch vorhandenen Gold- und Währungsreserven verkaufen müssen. Immer lauter denkt die Regierung aber auch darüber nach, die Unternehmer zur Kassa zu bitten. Offiziell ist bislang von einer "freiwilligen" Abgabe für Großkonzerne – ausgerechnet ohne die Öl- und Gasbranche – die Rede. Doch Kremlsprecher Dmitri Peskow warnte bereits, dass "das Zusammenspiel zwischen der Führung des Landes und der Wirtschaft, zwischen Regierung und Wirtschaft keine Einbahnstraße" sei. Neue Steuern dürften die Wirtschaft weiter schwächen.
Dass Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank ihre Rezessionsprognosen für Russland abgeschwächt haben, ist da nur ein schwacher Trost. Seit Kriegsbeginn zeige das Bruttoinlandsprodukt nämlich nicht mehr die Wirtschaftskraft und das Können Russlands an, Einkommen für seine Bürger zu generieren, meint Finanzexperte Kwascha. Es zeige lediglich die Fähigkeit, weiter Krieg zu führen. Denn die Rüstungsbetriebe werden immer bedeutsamer, als einzige im Land fahren sie unter absoluter Volllast im Dreischicht-Betrieb.
André Ballin/dpa