Seit einem Jahr greift Russland die Ukraine an, die Kämpfe laufen immer erbitterter. Die Diskussion dreht sich um Panzer und Kampfjets, für Verhandlungen fehlt die Basis. Ist denn gar kein Ausweg in Sicht?
PAUL LENDVAI: Es wäre schön, wenn sich das durch Verhandlungen lösen ließe. Man kann aber mit einem Aggressor, der ohne militärischen Druck in keinem Punkt nachgeben wird, der sich nicht an bestehende Verträge hält und keine glaubwürdigen Zusagen gibt, dass er nach einem Waffenstillstand nicht erneut angreifen wird, schwer zu einer Vereinbarung kommen. Wir sind in einer Situation, in der der Westen aus eigenem Interesse alles tun muss, damit die Ukraine überlebt. Wichtig ist Einigkeit. Wenn man feige und unentschlossen ist und das zeigt, gibt man einem Aggressor unglaublichen Auftrieb.
Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht fordern in einem "Manifest für den Frieden" ein Ende der Waffenlieferungen, sie warnen vor einem Atomkrieg. Wie gefährlich ist aus Ihrer Sicht die Lage?
Die Atomdrohung aus Moskau klingt sehr einschüchternd, und darauf zielt sie ja ab. Aber Putin weiß, dass er durch Atomwaffen den Krieg nicht gewinnen würde. Ich persönlich rechne nicht damit. Politisch sieht es für die Ukraine mit der EU-Annäherung an der Oberfläche glänzend aus. Aber in Wirklichkeit zeichnet sich eine Änderung der Lage zuungunsten der Ukraine ab. Es war vorauszusehen, dass in der westlichen Öffentlichkeit eine gewisse Kriegsmüdigkeit einsetzen wird, darauf hat Putin ja gesetzt. Er führt eigentlich zwei Kriege: einen Krieg auf dem Schlachtfeld und zusätzlich einen Hybridkrieg, der auf die Öffentlichkeit in Europa abzielt. In diesem Hybridkrieg waren er und seine Anhänger erfolgreicher als auf dem Schlachtfeld. Wir dürfen nicht vergessen, wie viele führende Leute in Europa – Politiker, Generaldirektoren, Bankiers – von Russland abhängen oder bestochen wurden, in Deutschland, in Österreich, in Frankreich, in England. Wir haben es in diesem Krieg nicht nur mit den echten Raketen zu tun, sondern auch mit den Raketen der Lügen. All das wirkt sich aber auf dem Schlachtfeld aus. Wir diskutieren, wie gefährlich Waffenlieferungen sind, und in der Zwischenzeit nutzt die russische Militärführung die Situation aus.