Ein mutmaßlicher Deserteur der russischen Söldnertruppe Wagner ist über die Grenze nach Norwegen geflohen und sucht dort um Asyl an. Wie sein Anwalt am Montag mitteilte, floh der 26-jährige Andrej Medwedew Ende der vergangenen Woche in Nordnorwegen über die Grenze. Ein Polizeisprecher bestätigte, ein Mann sei in der Nacht zum Freitag wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen worden und habe Asyl beantragt.
Der Menschenrechtsorganisation Gulagu.net schilderte der 26-Jährige seine dramatische Flucht: "Als ich auf dem Eis (an der Grenze) war, hörte ich Hunde bellen und drehte mich um. Ich sah Leute mit Taschenlampen, die in meine Richtung rannten, rund 150 Meter von mir entfernt." Er habe Schüsse und dann zwei Kugeln an sich vorbeipfeifen hören.
Schneemobile, Scheinwerferlicht
Die norwegische Einwanderungsbehörde UDI bestätigte der Nachrichtenagentur AP, dass Medwedjew einen Asylantrag gestellt habe. Weitere Einzelheiten wollte sie nicht nennen. Ein Polizeisprecher sagte, ein Mann sei in der Nacht zum Freitag wegen illegalen Grenzübertritts festgenommen worden und habe Asyl beantragt. Anwohner auf der norwegischen Seite der Grenze bestätigten gegenüber lokalen Medien, dass es in der Nacht auf Freitag viel Aktivität gegeben habe. Schneemobile, Scheinwerferlicht und eine hohe Polizeipräsenz.
Medwedews Anwalt Brynjulf Risnes sagte der Nachrichtenagentur AFP, nach dem Überqueren der Grenze habe der junge Mann sich an Anwohner gewandt und sie gebeten, die Polizei zu rufen. Gegenüber der BBC sagte Anwalt Risnes, Medwedew werde nun in Oslo festgehalten, wo ihm Anklage wegen illegaler Einreise droht. Er befinde sich aber nicht mehr in Haft, sondern sei an einem "sicheren Ort", während man seinen Fall prüfe.
"Über Erfahrungen sprechen"
Medwedew wolle nach eigenen Worten "mit Leuten, die zu Kriegsverbrechen ermitteln, über seine Erfahrungen bei der Gruppe Wagner sprechen". Der 26-Jährige habe angegeben, bei der Söldnertruppe eine Einheit von fünf bis zehn Soldaten angeführt zu haben.
Laut Gulagu.net hatte sich Medwedew im Juli 2022 zunächst für vier Monate verpflichtet und wurde zum Kampfeinsatz in die Ukraine geschickt. Bei der Söldnertruppe sei er Zeuge von Hinrichtungen und Bestrafungen von Söldnern geworden, die den Kampf verweigerten oder die Truppe verlassen wollten. Vor allem den Verbrechern, die er in Gefängnissen rekrutiert hatte, um sie sechs Monate lang in den Krieg in die Ukraine zu schicken, hatte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin angekündigt, sie zu töten, sollten sie die Flucht wagen. Prigoschin hat auch bereits bestätigt, dass es den abtrünnigen Soldaten in seiner Truppe gebe.
Vertrag ohne Zustimmung verlängert
Nach den Worten seines Anwalts wurde Medwedews Vertrag mit Wagner ohne seine Zustimmung verlängert. "Ihm wurde klar, dass es keinen einfachen Weg rausgibt, also hat er beschlossen, davonzulaufen", sagte Risnes. Laut der norwegischen Nachrichtenagentur NTB ist Medwedew seit dem 6. Juli auf der Flucht.
Der britische "Guardian" berichtet nun, er habe vor einigen Monaten – also während der Flucht Medwedews, aber noch bevor er Russland verlassen hat – mit dem 26-Jährigen mehrere Telefonate geführt. Medwedew sagte der Zeitung, er habe in Bachmut gekämpft und sich seit dem Verlassen seiner Einheit in Russland versteckt.
Seine Einheit habe zum größten Teil aus früheren Strafgefangenen bestanden, die als "Kanonenfutter" genutzt worden seien. "Die Gefangenen werden als Kanonenfutter benutzt, wie Fleisch", zitiert die Zeitung aus einem Telefonat mit dem Mann. "Mir wurde eine Gruppe von Sträflingen zugeteilt. In meinem Zug überlebten nur drei von 30 Männern." Dann seien der Einheit weitere Gefangene zugeteilt worden, "und viele von ihnen starben ebenfalls".
Exekution mit Vorschlaghammer
Medwedew soll Berichten zufolge zu der gleichen Wagner-Einheit gehört haben wie Jewgenij Nuschin, berichten der "Tagesspiegel" unter Berufung auf die unabhängige russische Nachrichtenseite "Meduza". Der Wagner-Deserteur war vergangenes Jahr mit einem Vorschlaghammer exekutiert worden.
Medwedew soll laut "Guardian" auch gesagt haben, er wisse von mindestens zehn Wagner-Söldner, die getötet worden seien, weil sie nicht gehorcht hätten, einige habe er persönlich miterlebt. "Die Kommandanten brachten sie zu einem Schießplatz, wo sie vor aller Augen erschossen wurden. Manchmal wurde nur ein Mann erschossen, manchmal wurden sie paarweise erschossen", sagte er demnach. Von der Gruppe abgewandt haben soll er sich, als er Zeuge davon geworden sei, wie russische Gefangene an die Front gebracht, misshandelt und getötet wurden: "Das hat uns zutiefst schockiert, es war so beschissen."