Herr Türk, 2023 wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 75 Jahre alt. Besteht Anlass zum Feiern?
VOLKER TÜRK: Nein. Zum Feiern ist mir nicht zumute. Das Jubiläum sollte uns aber daran erinnern und klarmachen, welch ein Wunderwerk wir mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben. Nach den Schrecken und Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges, nach dem Holocaust sagten die Länder: "Nie wieder." Die Erklärung mit ihren 30 Artikeln ist das Produkt eines universellen Gedankengutes, geboren aus einem Kataklysmus. Die Erklärung ist ein Dreivierteljahrhundert nach ihrer Verabschiedung hochaktuell und bietet Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit: Sie ist Rechtsdokument und Grundnorm, sie soll allen Menschen, ohne Unterschied, den größtmöglichen Schutz bieten. Sie hält fest, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Ich wünsche mir, dass alle politisch Verantwortlichen die Erklärung lesen und sie zum Maßstab ihres Handelns machen.

Sie mussten sich sofort mit mehreren schweren Menschenrechtskrisen befassen. Wo ist die Lage besonders schlimm?
TÜRK: In Kriegen und Konflikten leidet die Bevölkerung besonders stark. Die Menschenrechte kommen unter die Räder. Wir sehen das in der Ukraine, in Syrien, im Jemen oder auch in Äthiopien, wo glücklicherweise ein Friedensabkommen geschlossen wurde. Auch wenn das Militär putscht wie in Mali und Myanmar oder wenn autokratische Regimes nicht von der Macht lassen wollen wie in Nicaragua kommt es nahezu zwangsläufig zu Unterdrückung. Wir sehen auch Länder ohne funktionierende Regierungen wie in Haiti, dort haben Gangsterbanden in der Hauptstadt Port-au-Prince ein Schreckensregime errichtet.

Russlands Präsident Wladimir Putins Armee terrorisiert und massakriert Zivilisten in der Ukraine. Welche Kriegsverbrechen haben Sie besonders schockiert?
TÜRK: Ich habe die Ukraine Anfang Dezember besucht und sah die Schrecken, das Leid und den täglichen Tribut, den dieser Krieg Russlands den Menschen abverlangt. In dem Ort Butscha bei Kiew war ich an der Stelle, wo das Leben eines alten Mannes gewaltsam beendet wurde. Er trug einen Sack mit Kartoffeln nach Hause. Er wurde getötet. In Isium, Oblast Charkiw, suchte ich die Reste eines beschossenen Wohngebäudes auf. Mehr als 50 Menschen wurden unter den Trümmern lebendig begraben. Es fanden sich Spuren von Leben, die ausgelöscht wurden. Ein Schuh. Ein Klavier. Spielzeug. Ein Schrank voller Kleider. Regale voller Bücher. Ich sprach mit Familien von Kriegsgefangenen, die ängstlich auf Nachrichten über ihre Angehörigen warten und hörte den Schmerz derjenigen, deren Söhne an der Front sind. Auch erfuhr ich von der besonderen Notlage der Menschen mit Behinderung und Älteren, die nicht in der Lage sind, bei Luftalarm einen Unterschlupf zu erreichen. Die Gewalt und das Töten in der Ukraine sind nicht zu begreifen. Es ist sinnlos und absurd.

Wo stehen Sie bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine?
TÜRK: Die Strafverfolgungsbehörden der Ukraine untersuchen derzeit 40.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen. Mein UN-Hochkommissariat schickte schon 2014 Ermittler in die Ukraine, das war nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland und dem Beginn der Kämpfe im Osten. Seitdem haben die Ermittler Berichte mit mutmaßlichen Kriegsverbrechen angefertigt. Erst jüngst dokumentierten sie die Tötungen von 441 Zivilisten in drei Regionen während der ersten Monate der Invasion 2022. Die tatsächlichen Zahlen sind wahrscheinlich wesentlich höher. Wir erfassen auch neue Fälle in Charkiw und Cherson. In einigen Fällen exekutierten russische Soldaten Zivilisten in behelfsmäßigen Gefangenenlagern. Andere wurden nach Sicherheitskontrollen hingerichtet – in ihren Häusern, Höfen und Hauseingängen. Selbst dann, wenn die Opfer deutlich gezeigt hatten, dass sie keine Bedrohung darstellten, indem sie zum Beispiel die Hände in die Luft hielten. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei den dokumentierten Hinrichtungen um Kriegsverbrechen handelt. Wir haben viele gerichtsfeste Beweise für Kriegsverbrechen gesammelt und werden weitere ausfindig machen.

Die ukrainischen Behörden haben nur wenige Russen für Kriegsverbrechen verurteilen können. Welches Signal geht davon aus?
TÜRK: Im Moment scheint es tatsächlich so, als würden die meisten Täter straffrei ausgehen. Wenn ihnen weder in der Ukraine noch in Russland der Prozess gemacht wird, müssen die UN-Mitgliedsländer entscheiden, ob sie ein internationales Tribunal einrichten. Einzelne Staaten können auch nach dem Weltrechtsprinzip eigene Strafverfahren gegen mutmaßliche Verbrecher einleiten, die ihre Taten im Ausland verübten. Die Geschichte lehrt uns, dass die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen. Und die Täter müssen wissen, dass sie nicht straffrei davonkommen werden.

Wird sich Putin jemals vor Gericht verantworten müssen?
TÜRK: Das ist politisch wie rechtlich kompliziert. Ich will nicht spekulieren, aber das erscheint mir zurzeit nicht realistisch.
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