Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar sind mehr als 8.300 Zivilisten getötet worden, darunter 437 Kinder. Das erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin laut einem Bericht des Internetportals "Unian" vom Sonntag. Mehr als 11.000 Menschen seien verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte Kostin zufolge aber höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten noch keinen Zugang hätten.
Die ukrainischen Behörden registrierten den Angaben zufolge mehr als 45.000 Kriegsverbrechen. 216 Personen seien als mutmaßliche Kriegsverbrecher gemeldet worden, darunter 17 russische Kriegsgefangene. Von 60 Personen angeklagten Personen seien bisher zwölf verurteilt worden.
Beweise für Gräueltaten
Die ukrainischen Behörden stoßen in befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk nach offizieller Darstellung auf immer mehr Beweise für Gräueltaten der einstigen russischen Besatzer. In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten bereits über 700 Leichen entdeckt worden, hatte Kostin am Samstagabend im Staatsfernsehen gesagt. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt.
Daneben seien etwa 20 Orte entdeckt worden, an denen Zivilisten verhört und in Gefangenschaft gehalten worden seien, erklärte er weiter. "Wir haben praktisch in fast jedem Dorf in der Region Charkiw Stellen gefunden, an denen sie friedliche Zivilisten getötet haben", sagte Kostin. Eine ähnliche Situation fänden die Ermittler jetzt in der vor kurzem befreiten Region Cherson in der Südukraine vor. "Und jeden Tag erhalten wir neue Informationen."
Offensive in Luhansk
Die russischen Streitkräfte verlegen nach Erkenntnissen des ukrainischen Generalstabs aus dem Gebiet Cherson abgezogene Einheiten in die Gebiete Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. In Luhansk richteten die russischen Besatzer zusätzliche Kontrollpunkte ein, um Deserteure zu identifizieren und festzunehmen, hieß es demnach am Sonntag. Die russische Armee greife zwar massiv mit Raketen an, es sei aber noch zu früh, von einer neuen Großoffensive zu sprechen.
Das erklärte der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, dem Internetportal "Ukrajinska Prawda" zufolge im ukrainischen Fernsehen. Es komme aber im Donbass in der Ostukraine zu schweren Kampfhandlungen.
Cherson geräumt
Die russischen Truppen hatten erst vor kurzem die Großstadt Cherson sowie das umliegende Gebiet nordwestlich des Flusses Dnipro geräumt und sich unter dem Druck der ukrainischen Streitkräfte auf die östliche Seite des Dnipro zurückgezogen.
Seit Samstag konnten ukrainische Einheiten dem Generalstab zufolge zahlreiche russische Angriffe in den Gebieten Luhansk und Donezk abwehren. Das ukrainische Militär zählte rund 60 russische Attacken mit Raketenwerfern. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.
Trotz eines relativ geordneten Rückzugs der russischen Truppen aus dem ukrainischen Gebiet Cherson sind Moskaus Streitkräfte nach Einschätzung britischer Militärexperten von Führungsschwäche und einer Kultur der Vertuschung geprägt. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums in London am Sonntag hervor. Demnach mangelt es auf mittlerer und unterer Befehlsebene an militärischer Führung.
Stromversorgung "unter Kontrolle"
Die Ukraine sieht unterdessen die Versorgung mit Strom im Land trotz der zahlreichen russischen Angriffe auf die Stromerzeugungsinfrastruktur unter Kontrolle. "Wir dementieren die in sozialen Netzwerken und Online-Medien verbreiteten Panikmeldungen und versichern Ihnen, dass die Lage zwar schwierig, aber unter Kontrolle ist", erklärte das ukrainische Ministerium für Energie am Samstag. Zuvor hatten die Kiewer Behörden erklärt, dass eine vollständige Abschaltung des Stromnetzes in der Hauptstadt nach den russischen Angriffen nicht auszuschließen sei.
Die Ukraine wies unterdessen Vorschläge zu Verhandlungen mit Russland erneut zurück. "Wenn man auf dem Schlachtfeld die Initiative ergreift, ist es etwas bizarr, Vorschläge zu erhalten wie: 'Ihr müsst verhandeln'", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak in Kiew. Dies würde bedeuten, dass das Land, "das seine Gebiete zurückgewinnt, vor dem Land kapitulieren muss, das verliert".
Atomkraftwerk beschossen
Das Atomkraftwerk Saporischschja wurde unterdessen russischen Angaben zufolge beschossen. Die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert den russischen Energiekonzern Rosenergoatom mit der Darstellung, die Ukraine habe in die Nähe einer nuklearen Lagereinrichtung geschossen. Messungen zufolge sei keine radioaktive Strahlung ausgetreten.
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA/IAEO) bestätigte mehrere starke Explosionen am AKW Saporischschja. IAEA-Experten an Ort und Stelle hätten von Dutzenden Einschlägen in der Nähe und auf dem Gelände der größten europäischen Atomanlage berichtet, teilte die Behörde am Sonntag mit. "Wer auch immer dahintersteckt: Es muss umgehend aufhören", verlangte IAEA-Chef Rafael Grossi. "Wie ich schon oft gesagt habe: Ihr spielt mit dem Feuer!"
Rund 4700 Raketen abgefeuert
Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Russland Selenskyj zufolge zudem bereits rund 4.700 Raketen auf Ziele im Nachbarland abgefeuert. "Hunderte unserer Städte sind praktisch niedergebrannt, tausende Menschen wurden getötet, Hunderttausende wurden nach Russland deportiert", sagte Selenskyj am Sonntag in einer Videobotschaft an die internationale Organisation der Frankophonie, deren Vertreter sich im tunesischen Djerba trafen.
"Und Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen, um in anderen Ländern Schutz vor dem Krieg zu suchen", sagte er weiter. Allein am vergangenen Dienstag habe Russland knapp 100 Raketen auf die Ukraine abgefeuert. "Hundert verschiedene Raketen gegen unsere Städte, gegen Wohngebäude, gegen Unternehmen, gegen Kraftwerke", sagte Selenskyj. Als Folge dieser Angriffe seien über 20 Millionen Menschen zeitweise ohne Stromversorgung gewesen. Selenskyj bat die Mitgliedsstaaten der Frankophonie um Hilfe. "Die Ukraine will wirklich Frieden. Aber um den Frieden wiederherzustellen, brauchen wir Unterstützung." Eine Rückkehr zum Frieden sei durchaus möglich, sagte er. "Aber sie ist möglich, wenn jeder auf der Welt versteht, dass niemand auf der Welt einen einzigen Tag des Terrors verdient."