Russland will nach der Rückzugsankündigung nach Ansicht der Ukraine Cherson in eine "Stadt des Todes" verwandeln. Der politische Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Mychajlo Podoljak, beschuldigte Russland, Gegenden zu verminen und zu planen, Cherson von der anderen Seite des Flusses Dnipro zu beschießen. Selenskyj selbst rief nach der Ankündigung Moskaus zur Zurückhaltung auf. Auch die NATO gab sich zurückhaltend. Kiew meldete indes Gebietsgewinne im Süden des Landes.
"Stadt des Todes"
"RF (Russland) will Cherson in eine 'Stadt des Todes' verwandeln. Das russische Militär vermint alles, was es kann: Wohnungen, Abwasserkanäle. Die Artillerie am linken Ufer plant, die Stadt in Ruinen zu verwandeln", schrieb Podoljak auf Twitter. "So sieht (die) 'russische Welt' aus: kam, raubte, feierte, tötete 'Zeugen', hinterließ Ruinen und ging."
Auch der britische Geheimdienst erklärte, dass die russischen Truppen Brücken zerstört und mutmaßlich auch Minen gelegt haben, um die Rückeroberung der von Moskau aufgegebenen Stadt Cherson für die Ukraine zu erschweren. Es sei zu erwarten, dass der angekündigte Rückzug sich über mehrere Tage hinziehen und von Artilleriefeuer zum Schutz der abziehenden Einheiten begleitet werde, hieß es am Donnerstag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. Insbesondere bei der Überquerung des Dnipro seien die russischen Einheiten angesichts begrenzter Möglichkeiten verletzlich.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich ebenfalls zurückhaltend. "Wir müssen jetzt sehen, wie sich die Lage vor Ort in den nächsten Tagen entwickelt", sagte der Norweger am Donnerstag am Rande von Gesprächen mit der neuen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni in Rom. Klar sei aber, dass Russland schwer unter Druck stehe. "Wenn sie Cherson verlassen, wäre das ein weiterer großer Erfolg für die Ukraine", fügte Stoltenberg hinzu.
Ungeachtet des von Moskau angekündigten Abzugs aus der südukrainischen Stadt Cherson und vom gesamten rechten Dnipro-Ufer mahnt der Präsident der Ukraine Zurückhaltung an. Nach dieser Ankündigung herrsche zwar "viel Freude", sagte Wolodymyr Selenskyj am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache. "Aber unsere Emotionen müssen zurückgehalten werden – gerade während des Krieges."
Selenskyj verwies darauf, dass der Rückzug der russischen Besatzer in erster Linie den Erfolgen der ukrainischen Streitkräfte zu verdanken sei. "Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine Gesten des guten Willens."
Ukraine will weiter kämpfen
Und die Ukraine werde weiter kämpfen. "Ich werde den Feind definitiv nicht mit allen Details unserer Operationen füttern", sagte Selenskyj. "Ob im Süden, ob im Osten oder sonst wo – unsere Ergebnisse wird jeder sehen, selbstverständlich." Das ukrainische Militär werde sich weiter "sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko" bewegen. Und dies mit möglichst wenigen Verlusten. "So werden wir die Befreiung von Cherson, Kachowka, Donezk und unseren anderen Städten sichern."
Selenskyj warnte die Entscheider in Moskau davor, den Befehl zum Sprengen des Kachowka-Staudamms oberhalb von Cherson oder zur Beschädigung des Atomkraftwerk Saporischschja zu geben. "Dies würde bedeuten, dass sie der gesamten Welt den Krieg erklären", sagte der Präsident.
Unter dem Druck ständiger ukrainischer Angriffe hatte der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu am Mittwoch den Abzug des russischen Militärs aus Cherson und der gesamten Region um die Stadt angeordnet. Nach dem Scheitern des Vormarschs auf Kiew und dem Rückzug bei Charkiw gilt dies als weitere militärische Niederlage Russlands. Moskau nannte den Abzug eine "militärischen Notwendigkeit" und "Umgruppierung der Kräfte".
Heftiger Beschuss durch die Ukrainer
"Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität", sagte Schoigu zur Begründung. Der neue Kommandant der russischen Truppen in der Ukraine, Sergei Surowikin, berichtete von zuletzt heftigem Beschuss der Ukrainer auf die Stadt Cherson und umliegende Ortschaften.
Russland hatte das Gebiet Cherson in den ersten Kriegswochen weitgehend besetzt und im September – ebenso wie die Regionen Saporischschja, Luhansk und Donezk – völkerrechtswidrig annektiert. Ungeachtet dessen kündigte die Ukraine immer wieder an, Stadt und Gebiet Cherson auch mithilfe westlicher Waffen befreien zu wollen.
In den vergangenen Wochen gab es andauernde, heftige Kämpfe. Mehrfach berichteten die Ukrainer von großen Zerstörungen und hohen Verlusten auf russischer Seite. Unabhängig konnte das oft zwar nicht überprüft werden. Zuletzt rechneten aber auch russische Militärblogger mit einem baldigen Rückzug der eigenen Truppen aus der Stadt Cherson.
"Schwierige Entscheidungen" angekündigt
Auch Kommandant Surowikin kündigte bereits im Oktober "schwierige Entscheidungen" in Cherson an, was von Beobachtern als Indiz für einen geplanten Abzug gedeutet wurde. Zudem brachten die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge Zehntausende Zivilisten aus der Stadt Cherson weg. Die Ukraine sprach von einer Verschleppung der Menschen.
Seit dem 24. Februar mussten die russischen Truppen bereits mehrfach größere militärische Niederlagen einstecken. Als eines der aus Kreml-Sicht größten Debakel gilt der Rückzug aus dem ostukrainischen Gebiet Charkiw Mitte September.