Der Krieg in der Ukraine tobt seit mittlerweile 250 Tagen. Seit der teils erfolgreichen Rückeroberungsoffensive der Ukraine bei Charkiv und Cherson Anfang September hat Russland begonnen, die gesamte kritische Infrastruktur des Landes rücksichtslos zu zerstören. Den Menschen werden buchstäblich Strom, Heizung und Wasser abgedreht. 60 Prozent der 330-kV-Netzanlagen sind zerstört. Die Ukraine wird sozusagen ins Zeitalter vor der Industrialisierung zurückgebombt.
Aktuelle Satellitenbilder zeigen, dass es in der Ukraine schlicht und ergreifend immer finsterer wird im Vergleich zu den Ländern rund herum. "Nach 250 Tagen ist die Lage im Krieg um die Ukraine von weiteren verheerenden Eskalationen geprägt. Dazu zählen in den letzten Wochen mehrere gegenseitig durchgeführte spektakuläre Angriffe. Diese lassen erkennen, dass eine Befriedung des Konflikts in naher Zukunft ausgeschlossen werden kann", analysiert Ukraine-Experte und Garde-Kommandant, Oberst Markus Reisner, die aktuelle Lage.
Verheerende Folgen im Winter
"Die seit dem 10. Oktober laufenden Angriffe der russischen Seite auf die kritische Infrastruktur der Ukraine haben immer schwerere Zerstörungen zur Folge. Im nun folgenden Winter kann dies verheerende Auswirkungen auf die Ukraine haben. Deren Fähigkeit, den Abwehrkampf weiter fortführen zu können, ist gefährdet. Die in der Ukraine verbliebenen 35 Millionen Menschen stehen vor einem harten Winter mit ungewissem Ausgang."
Mitte Oktober erfolgte bei Kiew ein erster Angriff auf das "zentrale Nervensystem", die 750 kV Leitungen. Diese führen von den restlichen neun vorhandenen Reaktoren, in den drei Kernkraftwerken, weg und speisen über sieben zentrale Umspannwerke die 330 kV Leitungen. "Die Zerstörung der Umspannwerke und der zentralen 750 kV Leitung hätte verheerende Folgen. Ziel der Angriffe der Russen ist eindeutig die ukrainische Bevölkerung."
Dritte Offensive im Verborgenen
Militärisch versuche die Ukraine gerade im Verborgenen eine dritte Offensive voranzutreiben. Ein Stoß aus dem Raum ostwärts des Dnepr-Knies bzw. Zaporozhye in Richtung Melitopol und Asowsches Meer. Würde er gelingen, wäre die gesamte russische Kräftegruppierung im Raum Cherson, Zaporozhye und auf der Krim vor dem Winter von der Versorgung abgeschnitten. Im Moment versuchen die russischen Kräfte die ukrainischen Bereitstellungen mit Artillerie, "Kamikaze"-Drohnen und Luftstreitkräften zu zerschlagen. Die Ukraine setzt dagegen eigene weitreichende Artillerie (darunter aus den USA gelieferte HIMARS-Systeme), GEPARD-Flugabwehrpanzer und S300 Fliegerabwehrbatterien ein.
"Es ist eindeutig erkennbar, dass Russland sich entlang des von ihm besetzten Gebiets zur Verteidigung eingräbt. Im Donbass und Cherson sind umfangreiche Schanzarbeiten erkennbar. Die Russen sind offensichtlich gekommen, um zu bleiben. Ein Zusammenbruch der Moral ist, trotz aller im Westen gezeigten gegenteiligen Videos, noch nicht erkennbar. Die Teilmobilisierung ist trotz anfänglicher gravierender Missstände angelaufen. Im Dezember und Jänner werden die Masse der Mobilisierten in den Kampfräumen eintreffen und dort das seit Februar bestehende Hauptdefizit der russischen Streitkräfte, den Mangel an Infanterie, ausgleichen. Darauf muss sich die Ukraine über den Winter vorbereiten", so Reisner.
Potenzial an Marschflugkörpern erschöpft
Der ukrainische Generalstab geht davon aus, dass das Potenzial russischer Marschflugkörper zu über 50 Prozent erschöpft ist bzw. dass der verfügbaren ballistischen Raketen bereits unter 20 Prozent steht. Russland hat es hier aber durch die Anlieferung iranischer Drohnen vom Typ SHAHED-136 geschafft, sein Momentum aufrechtzuerhalten. "Die Ukraine braucht rasch und umfangreich moderne Multisensor-Fliegerabwehrmittel, kurzer, mittlerer und hoher Reichweite. Nur so kann sie die eigene Tiefe des Landes schützen und eine Versorgung der Bevölkerung sicherstellen."