EU-Außenbeauftragter Josep Borrell hat Russlands erneute Blockade von ukrainischen Getreideexporten über das Schwarze Meer kritisiert. Die Entscheidung gefährde "die wichtigste Exportroute für dringend benötigtes Getreide und Düngemittel zur Bewältigung der durch den Krieg gegen die Ukraine verursachten weltweiten Nahrungsmittelkrise", schrieb der EU-Chefdiplomat am Sonntag auf Twitter. Die EU fordere Moskau dringend dazu auf, die Entscheidung rückgängig zu machen.
Russland hatte am Wochenende die Aussetzung eines im Juli unter Vermittlung der Türkei und der UNO geschlossenen Abkommens verkündet. Es hatte die monatelange Blockade der ukrainischen Getreideausfuhren im Zuge des russischen Angriffskrieges beendet. Als Grund für die Aussetzung gab Russland Drohnenangriffe auf die Schwarzmeerflotte in der Stadt Sewastopol auf der 2014 von Moskau völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim an. Die Ukraine sei von Großbritannien unterstützt worden. Großbritannien wies die Anschuldigungen als falsch zurück.
Auch USA kritisieren russische Blockade von Getreideexporten
Die Sicherheit des für die Getreidetransporte eingerichteten Korridors könne nicht mehr gewährleistet werden, hieß es aus Moskau. Diese Darstellung wies die ukrainische Regierung scharf zurück. Russland habe Angriffe auf eigene Einrichtungen erfunden. Der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak sprach von "fingierten Terrorattacken".
Auch die USA kritisieren die neue russische Blockade von Getreideexporten aus der Ukraine und fordern eine Wiederaufnahme der Lieferungen. Präsident Joe Biden nannte das russische Vorgehen am Samstag empörend und betonte, dass es für mehr Hunger auf der Welt sorgen werde. "Russland setzt Nahrungsmittel erneut als Waffe in dem Krieg, den es begonnen hat, ein", sagte US-Außenminister Antony Blinken.
"Die Reaktion Washingtons auf den Terrorangriff auf den Hafen Sewastopol ist ungeheuerlich", schrieb dagegen der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow, auf Telegram. Die "rücksichtslosen Aktionen des Regimes in Kiew" seien bisher nicht verurteilt worden.
Russland beantragt Sitzung des UNO-Sicherheitsrates
Russland hatte am Samstagabend UNO-Generalsekretär António Guterres offiziell über die Aussetzung des Abkommens informiert. Wegen der Angriffe setze Moskau das Abkommen auf unbestimmte Zeit" aus, so der russische UNO-Botschafter. "Den russischen Vertretern im gemeinsamen Koordinierungszentrum in Istanbul, das für die Umsetzung der Initiative zuständig ist, wurden entsprechende Anweisungen erteilt", hieß es weiter. Zudem beantragte Russland in der Angelegenheit eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrates für Montag, wie aus Kreisen des mächtigsten Gremiums der Vereinten Nationen verlautete.
Moskau blockiere unter einem Vorwand die Transporte, "die Lebensmittelsicherheit für Millionen Menschen bedeuten", erklärte Außenminister Dmytro Kuleba am Samstagabend auf Twitter. "Ich rufe alle Staaten auf, zu fordern, dass Russland seine 'Hunger Games' stoppt und sich wieder an seine Verpflichtungen hält."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte eine scharfe Reaktion der UNO und der G20-Staaten. Russland verursache mit diesem Schritt Hungersnöte in Afrika, dem Nahen Osten und Südasien, so Selenskyj in einer Videobotschaft. Die Ukraine habe die Vereinbarung nicht mit Russland, sondern mit den Vereinten Nationen und der Türkei geschlossen, sagte Serhij Nykyforow, Sprecher von Selenskyj. Kiew warte also auf deren Reaktion.
Ukraine ist eine der größten Getreideexporteure weltweit
Die Vereinten Nationen wollte die Hoffnung auf ein Fortbestehen des Deals trotz der Äußerungen aus Moskau zunächst noch nicht aufgegeben. "Wir stehen mit den russischen Behörden in dieser Sache in Kontakt", sagte ein UN-Sprecher in New York. "Es ist unerlässlich, dass alle Seiten jegliche Handlungen unterlassen, die das Getreideabkommen gefährden, das eine entscheidende humanitäre Anstrengung ist, die eindeutig einen positiven Einfluss auf den Zugang zu Lebensmitteln für Millionen von Menschen weltweit hat."
Das vor drei Monaten ausgehandelte Abkommen sollte den weltweiten Anstieg der Getreidepreise dämpfen. Die Ukraine ist eine der größten Exporteure des Grundnahrungsmittels weltweit. Viele Entwicklungsländer sind vom Import vergleichsweise preiswerten Getreides abhängig.
Seitdem Russland und die Ukraine am 22. Juli das Abkommen unterzeichnet haben, wurden mehrere Millionen Tonnen Mais, Weizen, Sonnenblumenprodukte, Gerste, Raps und Soja aus der Ukraine exportiert. Voraussetzung war die Aufhebung der Blockade ukrainischer Häfen und die Schaffung sicherer Korridore durch das Schwarze Meer für die Frachter. Vertreter der UNO hatten sich noch Mittwoch zuversichtlich gezeigt, dass die ursprünglich auf 120 Tage begrenze Vereinbarung über Mitte November hinaus verlängert werden könne.
Ukraine erklärte, die von Russland besetzte Krim zurückerobern zu wollen
Russland drohte schon seit Wochen mit einem möglichen Stopp des Getreidedeals. Der ukrainische Präsident Selenskyj beklagte bereits in den vergangenen Tagen, dass Russland die Durchfahrt der mit Getreide beladenen Schiffe blockiere.
Zu dem Angriff auf der Krim hatte die Regierung in Moskau am Samstag erklärt: "Heute Morgen um 4.20 Uhr ist vom Kiewer Regime ein Terroranschlag auf die Schiffe der Schwarzmeerflotte verübt worden." Insgesamt hätten 16 Drohnen Sewastopol angegriffen, die meisten seien aber abgefangen worden. Das Minenräumschiff "Iwan Golubez" und auch Anlagen in einer Bucht seien leicht beschädigt worden, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die Ukraine hat immer wieder erklärt, die von Russland seit 2014 besetzte Krim zurückerobern zu wollen. Die Stadt Sewastopol auf der Halbinsel ist für Moskau wichtig als Basis der Schwarzmeerflotte. Immer wieder wird die Halbinsel auch von Explosionen erschüttert, für die Russland die Ukraine verantwortlich macht. Kiew schweigt dazu meist. Am 8. Oktober etwa war die für den Nachschub der russischen Invasionstruppen in der Ukraine wichtige Kertsch-Brücke zwischen Russland und der Krim durch eine Explosion schwer beschädigt worden.