Wladimir Putin griff nach den Händen seiner Nebenmänner, legte sie übereinander, schaukelte das Bündel aus Fingern und Ärmeln im Takt der "Russland, Russland!"-Rufe, die der Saal skandierte. Putins Augen strahlten, er machte das Gesicht eines Buben, der nicht nur am Geburtstag bestimmt, welche Spiele gespielt werden.

Heute wird Russlands Präsident 70 Jahre alt. Eine Woche vorher hat Wladimir Putin im Kreml die zumindest teilweise besetzten Regionen in der Ukraine feierlich zu russischem Staatsgebiet erklärt.

Ein ganz eigenes Geschichtsbild

37 Minuten präsentierte er dem Kremlpublikum seine Weltgeschichte. Er sprach von den Verbrechen des Westens, die USA hätten schon zweimal Kernwaffen eingesetzt, dabei Hiroshima und Nagasaki zerstört. "Damit haben sie übrigens einen Präzedenzfall geschaffen." Die Welt rätselt, ob Putin diesen Präzedenzfall für einen eigenen Nuklearschlag nutzen will.


Er ist etwas rundlich geworden, sein Gesicht wirkt leicht geschwollen. Ärzte mutmaßen, er leide am Parkinson-Syndrom, auch weil er die linke Hand jetzt mit Vorliebe irgendwo festhält. Aber Putin ist kein Greis, noch immer kann er stundenlang fulminant räsonieren. Kein Vergleich zu Boris Jelzin, als der, 69, herzkrank und alkoholabhängig, Silvester 2000 Putin mit schleppender Stimme zu seinem Thronfolger ausrief. Der präsentierte sich den Russen von Anfang als Mann deftiger Sprüche und Taten. "Murkst sie ab, wenn nötig, im Klo!", befahl Putin den Truppen im Krieg gegen tschetschenische Separatisten.

Putin richtete seinen Sarkasmus bald auch gegen den Westen. Einen französischen Journalisten, der ihm 2002 die zivilen Opfer in Tschetschenien vorhielt, schnauzte er an: "Wenn Sie selbst radikaler Islamist werden wollen und bereit sind, sich beschneiden zu lassen, lade ich Sie nach Moskau ein. Unsere Spezialisten sorgen dafür, dass nichts nachwächst." Die meisten Russen freute so etwas. Putin verschaffte ihnen Genugtuung für den verlorenen Kalten Krieg. Und Putin hatte Fortune, in seinen ersten zwei Amtsperioden kletterte der Ölpreis von unter 20 auf über 100 Dollar, die Durchschnittslöhne stiegen zudem jährlich um über 50 Prozent. Selbst nach der Mobilmachung unterstützten laut Umfragen noch immer 77 Prozent der Russen ihren Präsidenten.


Putin wuchs in der gleichen Gefühlswelt auf wie die meisten Russen, die die Sowjetunion noch mitbekommen haben. Sie hingen vom Staat ab, bekamen von ihm Arbeit zugeteilt. Aber über seine Parolen machten sie Witze. Sie ließen sich Kommunismus predigen und klauten Klopapier. Und sie knüpften mit Verwandten oder Datschennachbarn Netzwerke, um sich gegenseitig Wurst zu organisieren. "Den Russen hat es immer imponiert, wie reich Putin ist", sagt der Moskauer Geschichtslehrer Maxim. "Und wer kann, klaut im kleinen Stil selber." Als Putin 2014 die Krim annektierte, gipfelte die Zustimmung in sowjetnostalgischer Euphorie. Putin ist wie ein Großteil der Russen Kind einer Gesellschaft ohne ein funktionierendes Wertesystem. Er predigt die Überlegenheit der "traditionellen russischen Werte". Aber konkret kann er nur sehr globale Tugenden nennen: Mitleid, Kinderliebe oder Wahrheitstreue.

"Sie lügen wie Goebbels", beschuldigt er den Westen. Aber seine eigenen Unwahrheiten sind berühmt. Putins Flunkerei von 2014, die russischen Soldaten auf der Krim seien örtliche Landsturmmänner, die ihre Ausrüstung in Military-Läden gekauft hätten, feierte die vaterländische Öffentlichkeit hinterher als Kriegslist.
Auch daran, dass er noch diesen Februar verkündete, man plane nicht, ukrainische Gebiete zu besetzen, wollte sich bei den Annexionsfeierlichkeiten niemand erinnern. Doch selbst Kernwähler waren geschockt, als er am 21. September die Teilmobilmachung "zur Verteidigung des eigenen Vaterlandes" ausrief. "Putin ist verrückt geworden", sagt jetzt auch ein erzpatriotischer Moskauer Chefmanager.

Atombombe als letzter "Trumpf"

Seit Jahren hegt Putin einen weiteren vaterländischen Wert: die Atombombe. Schon 2007 erklärte er, Russlands traditionelle Konfession und sein Nuklearschild seien die Grundvoraussetzungen für die Sicherheit des Landes. 2018 versicherte er noch, Russland werde Atomwaffen nur als Antwort auf einen Nuklearangriff anwenden, dabei aber die Apokalypse in Kauf nehmen. "Wir kommen als Märtyrer in den Himmel, sie aber verrecken", sagte er.

"Bei einer Bedrohung der territorialen Unversehrtheit unseres Landes", drohte er bei der Ankündigung der Annexionsreferenden, "werden wir zweifelsohne alle uns zur Verfügung stehenden Mittel benutzen. Das ist kein Bluff." Aber er müsste die ersten Raketen abfeuern, sobald seine Annexion in Russland rechtskräftig wird. Weil diese Annexion Gebiete umfasst, die die Ukrainer entweder halten oder gerade zurückerobern. Und die Frontlage wirkt immer kritischer. Ein langjähriger Mitarbeiter Putins sagt dem Rechercheportal Faridaily, für Putin gäbe es kein Zurück. "An jeder unangenehmen Weggabelung wird er die Eskalation bis zu den Atomwaffen auswählen."


Allerdings neigen kremlnahe Quellen dazu, Journalisten die Wahrheiten zuzuflüstern, die Putin selbst gern in die Welt setzen würde. Regimekritiker glauben, Putin bluffe. Sein imperialer Spleen sei unecht, sagt der Exil-Oppositionelle Leonid Wolkow. "Seiner DNA nach ist er ein kleiner Gauner, er liebt junge Mädchen, ein schönes Leben, Schlösser, Luxusjachten." Putin ist einer, der sich laut Politologe Juri Korgonjuk verzockt hat. "Seine letzte Karte ist die Atombombe, aber mit ihr kann er nur drohen, nicht schlagen." "Er mag ein Betrüger sein, aber kein Selbstmörder."

Am Ende der Annexionsfeierlichkeiten rief Putin von einer Konzertbühne der Menschenmenge auf dem Roten Platz zu: "Wir sind stärker geworden, weil wir zusammenstehen!" Er klang grimmig und gleichzeitig begeistert.  Danach schüttelte Putin einige Hände, mit eher kaltem Gesichtsausdruck. Er ging allein ab, in die entgegengesetzte Richtung seiner Begleiter. Ein kleiner Mann, unterwegs in seinem eigenen Tunnel.