Die ukrainischen Truppen haben unbeeindruckt von der völkerrechtswidrigen Annexion von vier Gebieten in den vergangenen Tagen ihre Gegenoffensive weiter erfolgreich vorangebracht. Besondere Beachtung fand die Befreiung des strategisch wichtigen Ortes Lyman in der östlichen Region Donezk. Die russische Teilmobilmachung stockte unterdessen und wurde von Fehlern begleitet, wie von russischer Seite selbst immer wieder zugegeben wird.
Washington schickt Kiew mobile Raketenwerfer
Das nächste Paket der amerikanischen Regierung zur Unterstützung der Ukraine wird nach Informationen von US-Vertretern vier mobile Raketenwerfer vom Typ Himars enthalten. Für das 625 Millionen Dollar schwere Paket seien zudem Munition, Sprengkörper und geschützte Fahrzeuge geplant, verlautet weiter aus den Kreisen. Die Unterstützung werde wohl am Dienstag offiziell bekannt gegeben.
Russische Botschafter einbestellt
Auch auf dem diplomatischen Parkett reagierte der Westen erneut deutlich auf die Eskalation Russlands durch die Annexionen und die Teilmobilmachung von mindestens 300.000 Reservisten: In zahlreichen europäischen Ländern - darunter Österreich - wurden die russischen Botschafter einbestellt. Neun NATO-Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa verurteilten gemeinsam Putins völkerrechtswidrige Einverleibung der ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja.
Laut Umfrage befürworten rund 83 Prozent der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft. Das ist die höchste Zustimmung seit Beginn der Erhebungen. Nur vier Prozent der ukrainischen Bevölkerung sprach sich bei der Erhebung durch ein Meinungsforschungsinstitut in Kiew dagegen aus. Im November 2021 - also vor dem russischen Einmarsch - wollten nur 55 Prozent der Ukrainer in die NATO. Die Ukraine hatte am Freitag einen Antrag zur beschleunigten Mitgliedschaft bei der NATO eingereicht.
Chef von AKW wieder frei
Der von Russland festgenommene Chef des ukrainischen Atomkraftwerks in Saporischschja nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA wieder freigelassen und siche zu seiner Familie zurückgekehrt. Der AKW-Chef war nach Angaben des staatlichen ukrainischen Atomkraftwerkbetreibers Energoatom am Feitag auf dem Weg vom AKW in die Stadt Enerhodar von einer russischen Patrouille gestoppt und mitgenommen worden. Muraschow ist laut Energoatom auf seinem Posten für die nukleare Sicherheit der Anlage in Saporischschja verantwortlich.
Das größte Atomkraftwerk Europas ist seit März von russischen Truppen besetzt. Die Anlage geriet in den vergangenen Wochen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine immer wieder unter Beschuss, für den sich Moskau und Kiew gegenseitig verantwortlich machten. Der Beschuss sowie Kämpfe in der Nähe des Atomkraftwerks schüren die Angst vor einer Atomkatastrophe.
Drohung mit Atomwaffen
Für Unruhe sorgten die russischen Drohungen zum Einsatz von Atomwaffen - auch vor dem Hintergrund einer zunehmend in Bedrängnis geratenden russischen Armee. "Angesichts der inneren Panik in der Russischen Föderation und der zunehmenden militärischen Niederlagen steigt das Risiko dafür", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak gegenüber deutschen Medien.
Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich besorgt wegen Putins wiederholter Atombomben-Drohungen. Sie betonte aber, die Berliner Bundesregierung werde sich nicht erpressen lassen.
Bei der Teilmobilmachung hatte der Kremlchef am 21. September gesagt: "Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Dies ist kein Bluff."
Mit den Annexionen sieht Putin auch Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja als russisches Staatsgebiet an. Das russische Parlament ratifizierte die international nicht anerkannten Annexionen am Montag. Die mehr als 400 Abgeordneten votierten einstimmig für die Aufnahme der Regionen in die Russische Föderation.
Von einer gesicherten russischen Vorherrschaft in den annektierten Gebieten kann vorerst keine Rede sein. Zum einen standen teils größere Teile der Gebiete schon zum Zeitpunkt der Einverleibung gar nicht unter russischer Kontrolle. Darüber hinaus berichteten die Besatzer am Montag von zahlreichen Versuchen der Ukraine, Frontlinien zu durchbrechen. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor von neuen Erfolgen bei der Rückeroberung von Ortschaften berichtet.
Im Bezirk Luhansk hätten sich ukrainische Soldaten bei der Stadt Lyssytschansk bereits festgesetzt, schrieb ein Militärsprecher der von Moskau gelenkten Luhansker Separatisten im Nachrichtendienst Telegram. Die ukrainischen Einheiten seien unter dem ständigen Feuer der russischen Armee. Unabhängig überprüfen lassen sich die Berichte aus den Kampfgebieten nicht.
"Sobald die ukrainische Flagge zurückgekehrt ist, erinnert sich niemand mehr an die russische Farce mit irgendwelchen Papieren und irgendwelchen Annexionen", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag.
Erhebliche Probleme bei Teilmobilmachung
Bei seiner Teilmobilmachung stößt Russland nach Einschätzung britischer Geheimdienste auf erhebliche Probleme. Eingezogene Reservisten würden sich derzeit übergangsweise in Zeltlagern versammeln, hieß es vom britischen Verteidigungsministerium. Das deute darauf hin, dass das Militär Schwierigkeiten habe, die Rekrutierten auszubilden und Offiziere für die Führung neuer Einheiten zu finden. Die Geheimdienste gehen außerdem stark davon aus, dass seit der Verkündung der Teilmobilmachung am 21. September auch bereits Russen eingezogen wurden, die eigentlich nicht unter die Definition der Rekrutierungswelle fallen.
Der Gouverneur der Region Chabarowsk im Osten Russlands bestätigte das am Montag: Demnach sind von "einigen Tausend" Einberufenen dieser Region inzwischen die Hälfte zurückgekehrt. Sie waren demnach eingezogen worden, obwohl sie nicht den Kriterien entsprachen. Der verantwortliche Leiter des Kreiswehrersatzamtes sei entlassen worden, schrieb Michail Degtjarjow im Nachrichtenkanal Telegram. Wie es zu den Fehlern kommen konnte, erklärte der Gouverneur nicht.
Hunderttausende Russen sind ins Ausland geflohen, um nicht in den Kriegsdienst geschickt zu werden. Die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnte Mobilmachung hatte zudem die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Monaten ausgelöst. Es gab auch Brandanschläge auf Einberufungsstellen. Der russische Präsident hatte selbst vorige Woche gesagt, es müssten alle Fehler bei der Einberufung von Reservisten "korrigiert" werden.
Geländegewinne der Ukraine an der Südfront
Die ukrainischen Streitkräfte verbuchen Berichten zufolge an der Südfront in der Region Cherson Geländegewinne. Während sich die Regierung in Kiew am Montag offiziell zunächst nicht zum Kriegsgeschehen äußerte, beschrieben russische Militär-Blogger, wie ukrainische Panzerverbände entlang des Flusses Dnipro vorstießen. Ein Berater des Kiewer Innenministeriums, Anton Geraschtschenko, veröffentlichte ein Video, auf dem ukrainische Soldaten ihre Nationalflagge in der Ortschaft Solota Balka hissten. Das Gebiet liegt zwischen den Städten Cherson und Saporischschja, deren Regionen Russlands Präsident Wladimir Putin am Freitag für annektiert erklärt hat.
Abgeschlossen ist die als Völkerrechtsbruch kritisierte Annexion erst mit der Verabschiedung zahlreicher Gesetze zur Integration der Gebiete. Die Staatsduma wollte die Gesetze noch am Montag verabschieden. Eine anschließende Zustimmung des Föderationsrates gilt als reine Formsache. Dann muss Putin die Einverleibungsgesetze noch unterschreiben.
Die Besatzer gehen davon aus, dass dann eine russische Großoffensive im Osten und Süden der Ukraine beginnt. Der Separatistenführer Denis Puschilin in Donezk zeigte sich im Staatsfernsehen am Montag zuversichtlich, dass sich die Lage an der Front zugunsten der Besatzer entwickeln werde. Durch die Teilmobilmachung komme neues Personal und auch neue Technik in die Kampfgebiete, sagte er. "Deshalb wird sich das Bild dessen, was an der Front passiert, ändern. In positiver Hinsicht", sagte Puschilin nach zahlreichen Niederlagen der russischen Armee, die am Wochenende auch die strategisch wichtige Stadt Lyman aufgegeben hatte. Erfolge gebe es etwa schon jetzt im Raum Bachmut, meinte Puschilin.