Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich ein Bild an der Front im Osten seines Landes gemacht und vorläufig das Ziel ausgegeben, die wiedergewonnenen Gebiete zu sichern. Er besuchte am Mittwoch den strategisch wichtigen Ort Isjum, südöstlich der Großstadt Charkiw, der am Wochenende von ukrainischen Streitkräften zurückerobert worden war. "Der Anblick ist schockierend." Das sei nach Butscha aber nicht verwunderlich, fügte Selenskyj hinzu.
"Dieselben zerstörten Gebäude, Menschen getötet." Selenskyj würdigte in Isjum die ukrainischen Soldaten für die Befreiung der Gebiete und wohnte einer Zeremonie bei, in der die ukrainische Flagge vor einem Gebäude der Stadtverwaltung gehisst wurde. In dem Ort war noch vielfach das "Z" zu sehen, das Symbol der russischen Streitkräfte in der Ukraine, sowie zerstörtes russisches Kriegsgerät. "Wir haben lange auf unsere Jungs gewartet", sagte die 74-jährige Ljubow Sinna. "Natürlich fühlen wir uns gut, Freude. Aber da ist auch Angst, dass die Russen zurückkommen könnten", fügte sie hinzu. "Weil wir das Ganze sechs Monate durchgestanden haben. Wir haben es in unseren Kellern ausgesessen, wir sind durch alles gegangen, was man sich nur vorstellen kann." Gas, Strom und Wasser gebe es nicht, fraglich sei, wie die Menschen jetzt durch den Winter kämen.
Möglicher Vorstoß auf Luhansk
In seiner nächtlichen Videobotschaft sagte Selenskyj, die ukrainischen Streitkräfte hätten in diesem Monat bisher rund 8000 Quadratkilometer an Gelände befreit, offenbar zumeist in der nordöstlichen Region Charkiw an der Grenze zu Russland. In etwa der Hälfte des zurückeroberten Gebiets seien "Stabilisierungsmaßnahmen" abgeschlossen. Details nannte Selenskyj nicht.
Berichte aus den Kampfgebieten können unabhängig nicht überprüft werden. Russische Truppen, die am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert waren, hielten vor Beginn der Gegenoffensive im Osten und Süden der Ukraine knapp 20 Prozent der Fläche des Landes besetzt.
Der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowitsch kündigte an, dass es nun auch einen Vorstoß auf die Donbass-Provinz Luhansk geben könnte. Die Gebiete um Luhansk und Donezk werden bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert. "Es gibt jetzt einen Angriff auf Luhansk, und es könnte einen Vorstoß auf Sewersk geben", sagte Arestowitsch in einem auf Youtube veröffentlichten Video. Er kündigte zudem einen Angriff um die Stadt Swatowo an, wo die russischen Truppen einen Stützpunkt unterhalten. "Das ist es, was sie am meisten fürchten – dass wir Lyman einnehmen und dann auf Lyssytschansk und Sjewjerodonezk vorrücken", sagte er und bezog sich dabei auf die Zwillingsstädte, die von Russland nach heftigen Kämpfen im Juni und Juli eingenommen worden waren.
Biden: "Wird noch ein langer Weg sein"
US-Präsident Joe Biden äußerte sich vorsichtig zu der Frage, ob in der Ukraine in dem gut sechsmonatigen Krieg nun ein Wendepunkt erreicht sei. "Es ist klar, dass die Ukrainer bedeutende Fortschritte gemacht haben. Aber ich denke, es wird noch ein langer Weg sein", sagte er. Die US-Regierung, die Hauptunterstützer der Ukraine mit Waffen ist, will in den kommenden Tagen ein neues Militärhilfspaket ankündigen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union in Straßburg, dass die EU-Unterstützung für die Ukraine "unerschütterlich" sei. In Anwesenheit der Frau Selenskyjs, Olena Selenska, sagte sie, dass die Sanktionen gegen Russland Wirkung zeigten und nicht aufgehoben würden. Russlands Präsident Wladimir Putin werde scheitern. "Die Ukraine und Europa werden sich durchsetzen", sagte Ursula von der Leyen und kündigte an, noch am Mittwoch nach Kiew reisen zu wollen. Sie wolle sich mit Selenskyj über eine Annäherung der Ukraine an den EU-Binnenmarkt beraten. Erneut stellte sie dem Land dabei eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht. "Unsere Union ist ohne Sie nicht vollständig."