Seit vergangenen Samstag häufen sich Erfolgsmeldungen aus Kiew. Die ukrainische Armee hat mit westlicher Unterstützung durch Waffenlieferungen und geschickter Strategie innerhalb kürzester Zeit Tausende Quadratkilometer an russisch besetzten Gebieten zurückerobern können.
Auch wenn der Kreml noch abwiegelt, brodelt es in Moskau. Nicht mehr nur hinter den Kulissen. So haben etwa Dutzende Lokalpolitiker in einer Petition den Rücktritt von Präsident Wladimir Putin gefordert – ein Tabubruch. Genauso wie der immer offenere und häufigere Gebrauch des Begriffs "Krieg". Bekanntlich darf der Angriff auf die Ukraine ja nur als "militärische Spezialoperation" bezeichnet werden.
Bisher war das Alltagsleben der Russinnen und Russen vom Krieg in der Ukraine – abgesehen von den westlichen Sanktionen – kaum betroffen. Laut Russland-Experte Gerhard Mangott wäre es Putin bisher gelungen, den Schein der Normalität im Land aufrecht zu halten. Mit ein Grund, warum sich in Russland bei Weitem keine Mehrheit gegen den Krieg findet.
Immer lautere Forderungen nach Generalmobilmachung
Unter dem Eindruck der verheerenden Niederlagen in der Region Charkiw und jetzt beginnend auch Donezk, ließen sich die schlechten Nachrichten jetzt aber nicht mehr verheimlichen, erklärt Mangott im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. "Nicht nur Politanalysten verwenden nun das Wort Krieg, selbst der Vorsitzende der (Putin-treuen, Anm.) russischen Kommunisten, Gennadi Sjuganow sagte am Dienstagnachmittag, Russland befinde sich in einem Krieg. Und zwar in einem 'Krieg gegen den Westen'. Und jetzt gelte es alle Kräfte und Ressourcen zu mobilisieren, es gehe um Sieg oder Niederlage", so Mangott. Es mehren sich also die Stimmen, die das bisherige Narrativ der Spezialoperation, die nach Plan verlaufe, durchbrechen.
Konkret heißt das, dass die Forderung nach der bisher vermiedenen Generalmobilmachung immer lauter wird, während sich nur eine kleine Minderheit für Friedensverhandlungen ausspricht.
Mangott teilt die Einschätzung vieler Beobachter, wonach russische Rekrutierungsversuche von Söldnern und Vertragssoldaten in letzter Zeit wenig erfolgreich waren und die Personalsituation entlang der langen Frontlinien immer schlechter wurde.
Das Dilemma
Mangott: "Wenn die russischen Streitkräfte in der Ukraine nicht verstärkt werden, bleiben Putin nur zwei Optionen: Entweder er verkleinert das besetzte Gebiet, oder er entscheidet sich doch für eine zumindest teilweise Mobilmachung." Das Dilemma dabei: Die erste Option würde einen Gesichtsverlust für den Präsidenten bedeuten. Die zweite könnte die Stimmung in der Bevölkerung zum Kippen bringen, "wenn dann Väter, Söhne, Enkel aus Familien geholt und eingezogen werden, um in der Ukraine zu kämpfen".
Die Mobilmachung birgt also ein großes politisches Risiko für den Kreml, weil der Versuch, Normalität vorzutäuschen, damit gescheitert wäre. Auch in Moskau und St. Petersburg – wo man den Krieg bisher kaum spürte – würde dann um gefallene Soldaten getrauert werden.
Gerhard Mangott erwartet sich für den Fall der Generalmobilmachung keinen rasanten Stimmungsumschwung in der Bevölkerung, aber "es beginnen sich die Fronten zu verschieben und Putin weiß nicht, wo das aufhören wird".
Schoigu und Gerassimov am Schleudersitz, abtrünnige Lokalpolitiker "werden es schwer haben"
Die von den eingangs erwähnten Lokalpolitikern gestellte Rücktrittsforderung bezeichnet der Russland-Kenner als mutige Aktion. Die Politiker würden es deswegen aber nun schwer haben und wären bereits vom Inlandsgeheimdienst FSB einbestellt worden und müssen Konsequenzen fürchten.
Doch auch mehrere Ebenen höher sind Politiker nicht vor dem Zorn des Kremls sicher: Putin macht Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Walery Gerassimov verantwortlich für den Verlauf des Kriegs, sein Verhältnis zu den beiden gilt als schlecht. Was den beiden zugutekommt, ist ein weiteres Dilemma, in dem Putin sich befindet. Würde er sie absetzen, käme das einem Eingeständnis gleich, dass in der Ukraine eben doch nicht alles nach Plan läuft.