Die Ukraine treibt nach den jüngsten militärischen Erfolgen ihre Gegenoffensive weiter voran. Allein innerhalb des vergangenen Tages seien mehr als 20 russisch-besetzte Ortschaften im Osten des Landes zurückerobert worden, teilte der Generalstab am Montag mit. Auch im Süden meldeten das ukrainische Militär Erfolge. Der Kreml kündigte unterdessen an, seine Offensive in der Ukraine fortzusetzen, bis die ursprünglich gesetzten Ziele erreicht worden seien.
"Die Befreiung von Ortschaften unter russischer Besatzung in den Gebieten Charkiw und Donezk setzt sich fort", teilte der ukrainische Generalstab am Montag in seinem Lagebericht mit. Insgesamt seien mehr als 20 Ortschaften innerhalb der letzten 24 Stunden zurückerobert worden. So hätten die russischen Truppen nun auch Welykyj Burluk und Dworitschna verlassen. Beide Ortschaften liegen im Norden des Gebiets Charkiw.
Franz-Stefan Gady im Video: "Ein Wendepunkt im Krieg"?
Das britische Verteidigungsministerium erklärte unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse, Russland habe vermutlich den Abzug der Truppen aus dem gesamten zuvor besetzten Gebiet westlich des Flusses Oskil in der Region Charkiw befohlen. Tausende russische Soldaten hatten angesichts des überraschend schnellen Vormarsches der ukrainischen Truppen ihre Stellungen zuletzt aufgegeben und dabei großen Mengen an Munition und Ausrüstung zurückgelassen.
Witali Gantschew, ein von Russland eingesetzter Statthalter in den besetzten Gebieten Charkiws, räumte am Montag im staatlichen russischen Fernsehen ein, dass die Ukrainer Siedlungen im Norden der Region erobert hätten. Sie seien mit acht Mal mehr Soldaten angerückt als Russland zusammen mit seinen prorussischen Verbündeten in dem Gebiet stationiert gehabt habe. "Die Lage wird von Stunde zu Stunde schwieriger", sagte er. Man habe etwa 5.000 Zivilisten nach Russland in Sicherheit gebracht. Die ukrainische Grenze zur russischen Region Belgorod sei inzwischen geschlossen.
Auch aus dem Süden der Ukraine meldete das ukrainische Militär am Montag Erfolge. Nach eigenen Angaben eroberte die ukrainische Armee im Süden rund 500 Quadratkilometer zurück. Auf verschiedenen Abschnitten seien die Truppen etliche Kilometer vorgerückt, sagt die Sprecherin des südlichen Militärkommandos, Natalia Humeniuk. Fünf Siedlungen seien in der Region Cherson zurückerobert worden.
Die Angaben ließen sich unabhängig nicht überprüfen. Russland hatte am Wochenende einige seiner schwersten Rückschläge in dem seit mehr als einem halben Jahr andauernden Krieg zugefügt bekommen. Entscheidende Nachschubdrehkreuze mussten aufgegeben werden. Nach Angaben des ukrainischen Militärs konnten seit Anfang September mehr als 3.000 Quadratkilometer besetzten Gebiets zurückerobert werden. Vor allem rund um die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw habe es Geländegewinne gegeben. Ausgehend von Charkiw komme das ukrainische Militär auch Richtung Süden und Osten voran.
Im Zuge des Rückzugs feuerte Russland nach ukrainischen Angaben am Sonntag auf Kraftwerke, was zu großflächigen Ausfällen der Strom- und Wasserversorgung in Charkiw und angrenzenden Regionen geführt habe. Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Russland vor, als Vergeltung für die Erfolge bei der ukrainischen Gegenoffensive gezielt die zivile Infrastruktur des Landes zu attackieren. "Keine Militäreinrichtungen. Das Ziel ist es, den Menschen Licht & Wärme zu berauben", schrieb er auf Twitter.
Sein Berater Mychajlo Podoljak teilte mit, dass in Charkiw eines der größten Kraftwerke des Landes getroffen worden sei. Das sei "die Reaktion eines Feiglings" auf die Flucht seiner eigenen Armee vom Schlachtfeld. Am Montagmorgen hieß es, in der Region sei die Strom- und Wasserversorgung zu 80 Prozent wiederhergestellt. Kurze Zeit später wurde die Strom- und Wasserversorgung in Charkiw erneut unterbrochen, wie der Bürgermeister der zweitgrößten Stadt der Ukraine mitteilte.
Russland kündigte am Montag an, ungeachtet der jüngsten Misserfolge seinen Krieg gegen das Nachbarland weiterführen zu wollen. "Die militärische Spezial-Operation wird fortgesetzt", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge, "bis die anfangs gesetzten Ziele erreicht sind". Peskow antwortete damit nur ausweichend auf die Frage von Journalisten, ob Russlands Militärführung noch immer das Vertrauen von Kremlchef Wladimir Putin genieße.
Selenskyj sprach in einem am Freitag aufgezeichneten CNN-Interview von einem möglichen Durchbruch in dem Krieg. Das britische Verteidigungsministerium erklärte am Montag, die schnellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte hätten erhebliche Auswirkungen auf die gesamten operativen Pläne Russlands. Im Süden nahe Cherson habe das russische Militär zudem offenbar damit zu ringen, ausreichend Nachschub über den Fluss Dnjepr an die Front zu bringen.
Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow sagte der "Financial Times", die Offensive laufe weitaus besser als erwartet. Sie sei wie ein Schneeball, der einen Hang runterkugle. "Das ist ein Zeichen, dass Russland besiegt werden kann." Wichtig sei jetzt, das zurückeroberte Gebiet zu sichern gegen einen möglichen Gegenangriff russischer Truppen auf die ausgedünnten ukrainischen Nachschublinien. Selenskyj sagte in dem CNN-Interview, im Winter könnten die ukrainischen Streitkräfte weitere Geländegewinne erzielen, falls Kiew mehr leistungsstarke Waffen erhalte.