Bei den Kämpfen in der Region Charkiw sind russische Truppen Berichten zufolge offenbar vom Vorstoß ukrainischer Kräfte überrascht worden. Laut dem ukrainischen Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch sind ukrainische Truppen viel weiter vorgedrungen als von Russland angegeben. Die USA und die UNO zeigten sich indes besorgt über Berichte über Verschleppungen von Zivilisten durch Russen. Auch der Betreiber des AKW Saporischschja berichtete von Verschleppungen von Mitarbeitern.

Zwar räumten die Russen ein, dass der Ort Balakliia in der Region Charkiv eingekesselt sei, sagte der ukrainische Präsidentenberater Arestowytsch auf YouTube. Tatsächlich seien die ukrainischen Truppen aber viel weiter vorgedrungen und hätten die Straße nach Kupjansk blockiert.

Damit bezog er sich auf einen zentralen Versorgungsposten der russischen Truppen weiter im Osten des Landes. Juri Podoljak, ein von pro-russischen Vertretern oft zitierter Ukrainer, schreibt auf Telegram: "Der Feind hat mit relativ wenigen Kräften beträchtlichen Erfolg bei Balakliia ... es sieht so aus, als hätten die russischen Kräfte diesen Vorstoß verschlafen und ihn anderswo erwartet." Es habe schwere Verluste gegeben. Balakliia liegt zwischen Charkiw und Isjum, einer Stadt mit einem für den russischen Nachschub wichtigen Eisenbahnknotenpunkt.

Mehrere Tote

Bei nächtlichen Raketen- und Artillerie-Angriffen russischer Truppen wurden nach ukrainischen Angaben mehrere Menschen getötet. Attacken wurden aus verschiedenen Landesteilen gemeldet. In der Region Donezk wurden laut den dortigen Behörden sieben Zivilistinnen und Zivilisten getötet und im Großraum Charkiw fünf Menschen verletzt. In der Region Saporischschja seien mindestens elf Gebäude beschädigt worden, schreibt Gouverneur Walentyn Resnitschenko auf Telegram. Berichte über Verletzte gab es hier nicht.

Nach Einschätzung britischer Militärexperten setzen unterdessen gezielte Angriffe auf Flussübergänge die russischen Invasionstruppen in der Ukraine weiter unter Druck. Wie aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London am Donnerstag hervorgeht, zerstörten die ukrainischen Verteidiger eine Pontonbrücke entlang einer wichtigen Nachschubroute in der Region Cherson im Süden des Landes. "Die systematischen Präzisionsschläge gegen anfällige Flussübergänge dürften weiter Druck auf die russischen Kräfte ausüben (...)", teilten die britischen Experten mit. Das verlangsame die Fähigkeit Moskaus, Reserven und Nachschub an Material aus dem Osten zum Einsatz zu bringen.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar veröffentlicht die britische Regierung regelmäßig Geheimdienstinformationen zu dessen Verlauf. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.

Militärübungen in Belarus

Unterdessen hat Belarus nach eigenen Angaben Militärübungen in drei Bereichen des Landes gestartet, darunter an der Grenze zu Polen. Das Verteidigungsministerium teilt mit, das Manöver finde im Südosten nahe der Grenzstadt Brest, im Großraum der Hauptstadt Minsk in der Landesmitte und bei Witebsk im Nordosten nahe Russland statt. Bis zum 14. September solle trainiert werden, von feindlichen Kräften eingenommenes Territorium zurückzuerobern und die Kontrolle über Grenzregionen zurückzugewinnen. Die Zahl der beteiligten Soldaten und der Umfang der eingesetzten Ausrüstung liege unter der Schwelle, bei der nach OSZE-Regeln das Manöver angemeldet werden müsste.

Sorge wegen Verschleppungen

Die USA und die Vereinten Nationen zeigten sich indes besorgt über Berichte über Inhaftierungen und Verschleppungen von Zivilistinnen und Zivilisten durch Russland. Bis zu 1,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter 1.800 Kinder, seien demnach durch Russland unrechtmäßig inhaftiert, verhört und aus ihren Heimatorten verschleppt worden, erklärte die UNO-Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield, in einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats. Diese Praxis sei eine Vorbereitung für eine Annexion ukrainischer Gebiete.

Der Rat habe festgestellt, dass ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten in speziellen Lagern einem "Filtrationsverfahren" unterzogen werden, sagte die Leiterin der Abteilung für politische Angelegenheiten der UNO, Rosemary DiCarlo. Sie fordert Zugang zu allen inhaftierten Personen. In den kommenden Tagen werde zudem eine Untersuchungsmission nach Olenivka starten, wo im Juli 53 Ukrainerinnen und Ukrainer in einem Gefängniskomplex getötet worden sein sollen. Der russische UNO-Botschafter Vassily Nebenzia sagt, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Russland reisen, "eher ein Registrierungs- als ein Filtrationsverfahren durchlaufen".

Auch der Präsident der staatlichen ukrainischen Betreibergesellschaft des Atomkraftwerks Saporischschja erhob schwere Vorwürfe gegen die russischen Besatzer. Ukrainische Mitarbeiter des AKWs würden auf dem Weg zur Arbeit gefangen genommen, einige seien spurlos verschwunden, sagt Petro Kotin, Präsident von Energoatom, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.