Zu Beginn des Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar lief für den russischen Präsidenten Wladimir Putin noch vieles nach Plan. Bereits am ersten Tag nahmen russische Soldaten die riesigen Anlagen des Kernkraftwerks Tschernobyl ohne Widerstand der ukrainischen Bewacher ein. Das war kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Vorarbeit russischer Geheimdienste in der Ukraine.
Wie Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters in beiden Ländern ergaben, hatte Russland die Institutionen des Nachbarlandes systematisch unterwandert. Tschernobyl, das für die aus dem Norden vordringenden Invasoren auf dem kürzesten Weg nach Kiew lag, sollte den Auftakt für eine Übernahme der Macht über die gesamte Ukraine bilden. Wie fünf mit den Kriegsvorbereitungen vertraute Personen sagten, baute man in Moskau darauf, dank ukrainischer Handlanger mit nur geringen Militärkräften Präsident Wolodymyr Selenskyj binnen Tagen zur Kapitulation, zum Rücktritt oder zur Flucht zu zwingen.
Tschernobyl als Bollwerk
Spätestens seit der Nuklearkatastrophe von 1986 war Tschernobyl ein Bollwerk von aus Moskau gesteuerten Geheimdiensten. Nach dem schwersten Reaktorunfall der Geschichte, dessen Hintergründe als Staatsgeheimnis gehandelt wurden, schickte der KGB mehr als 1000 Mitarbeiter zu den Aufräumarbeiten, wie aus ukrainischen Dokumenten hervorgeht. KGB-Beamte wurden an einflussreichen Positionen installiert und erhielten nach Angaben eines Insiders auch nach dem Ende der Sowjetunion 1991 noch Befehle aus Russland.
Das Kraftwerk ist zwar seit mehr als 20 Jahren außer Betrieb, doch mit den Stilllegungs- und Überwachungsarbeiten sind noch immer Scharen von Mitarbeitern beschäftigt. Im November 2021 reaktivierte Russland seine alten Verbindungen nach Tschernobyl. Undercover-Agenten hätten mit der Bestechung von Verantwortlichen den Boden für eine unblutige Besetzung bereitet, sagte ein Insider. In Tschernobyl sollten auch Überläufer des ukrainischen Geheimdienstes SBU Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes FSB ukrainische Militärpläne übergeben. Beide Dienste sind aus dem sowjetischen KGB hervorgegangen, bei dem auch Putin seine Karriere begonnen hat.
Mitarbeiter in Haft
Für die Sicherheit von Tschernobyl am 24. Februar verantwortlich war Valentin Witer, stellvertretender Generaldirektor der Anlage und Oberst des SBU. Mittlerweile sitzt der 47-Jährige in Untersuchungshaft. Er soll sich unerlaubt von seinem Posten entfernt haben und wird des Hochverrats beschuldigt, wie Reuters aus Gerichtsunterlagen ersehen konnte. Witer hatte sich am 18. Februar krankgemeldet und rief am Tag der Invasion aus seiner Wohnung in Kiew den Chef der in Tschernobyl ansässigen Einheit der Nationalgarde an, Juri Pindak. "Schonen Sie Ihre Leute", sagte Witer ihm, wie Witer selbst in seiner Vernehmung angab. Tatsächlich streckten die 169 mit dem Schutz des Nuklearkomplexes beauftragten Nationalgardisten kurz darauf die Waffen. Witers Anwalt Olexander Kowalenko erklärte dazu, Witer habe seinen Gesprächspartner nicht zur Kapitulation aufgefordert, sondern an seine Verantwortung für zahlreiche Menschen erinnert. Pindak und weitere Nationalgardisten wurden von den russischen Besatzern beim Abzug aus Tschernobyl als Gefangene mitgenommen. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Wer sind die Protagonisten?
Als Chef einer Marionettenregierung in Kiew hatte der Kreml den ehemaligen ukrainischen Abgeordneten Oleg Zarjow auserkoren, wie mehrere Insider aus Russland sagten und damit US-Geheimdienstinformationen bestätigten. Zarjow, der sich einst um eine demokratische Wahl zum ukrainischen Präsidenten beworben und später prorussische Separatisten unterstützt hatte, betreibt auf der von Russland 2014 annektierten Krim zwei Hotels. Am Morgen des 24. Februar ließ der 52-Jährige seine 200.000 Follower auf dem Nachrichtendienst Telegram wissen: "Ich bin in der Ukraine. Kiew wird von Faschisten befreit werden." Als "Faschisten" bezeichnet Russland die ukrainische Regierung. Doch Selenskyj kapitulierte nicht, die russische Armee wurde vor Kiew von ukrainischen Truppen zurückgeschlagen, und Zarjow blieb bei seinem Beruf: Am 10. Juni bewarb er auf Telegram wieder eines seiner Hotels auf der Krim mit Ferienzimmern für 1500 Rubel pro Nacht. Das sind umgerechnet 24 Euro. Zarjow gab an, die Reuters-Informationen zu Russlands Vorgehen in der Ukraine hätten "sehr wenig mit der Realität zu tun".
Wie Zarjow scheiterten viele der sogenannten Schläfer, die in der Ukraine nach der russischen Invasion den Umsturz herbeiführen sollten, wie mehrere Insider aus Russland und der Ukraine sagten. Dass der vom Kreml noch immer als "militärische Spezialoperation" bezeichnete Angriff in einen umfassenden Krieg mit erbittertem Widerstand der Ukraine mündete, lag nach Angaben von vier Informanten an strukturellen Problemen des russischen Agentennetzes. Die Gewährsleute des Kreml in der Ukraine hätten ihren eigenen Einfluss aufgebauscht, sagte ein Insider aus dem Umfeld der von Moskau unterstützen Separatistenführung in der Ostukraine. "Sie wissen ein kleines Bisschen, aber sie sagen immer, was die Führung hören will, weil sie sonst nicht bezahlt werden." Putins Machtapparat habe sich auf "Clowns" verlassen.
Eines jedoch gelang Russland mit der Unterwanderung des ukrainischen Staates: Es säte Misstrauen und offenbarte Schwächen des SBU, der fast 30.000 Mitarbeiter beschäftigt. Am 17. Juli feuerte Selenskyj SBU-Chef Iwan Bakanow, einen langjährigen Vertrauten, und Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Zur Begründung verwies der Präsident auf eine große Zahl von Mitarbeitern beider Behörden, die des Verrats verdächtigt werden. 651 Verfahren wegen Hochverrats und Kollaboration seien mittlerweile eröffnet worden. Zudem seien mehr als 60 Angehörige des SBU und der Generalstaatsanwaltschaft in russisch besetzten Gebieten zu den Angreifern übergelaufen. Die unsichtbare Bedrohung sei ernst, sagte der Sekretär des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates Oleksij Danilow zu Reuters: "Neben dem äußeren Feind haben wir leider auch einen inneren Feind, und dieser Feind ist nicht weniger gefährlich."