Im wirklichen Leben sieht sie jünger aus als auf den russischen Bildern. „Die Oma mit der roten Fahne“, wie sie russische TV-Sprecher liebevoll nennen, sitzt auf einem Bett im Krankenhauszimmer ihres Mannes Iwan, vor sich ein Paket mit Erwachsenenwindeln, die sie für ihn gekauft hat. Auf dem Fensterbrett liegen sieben Stücke Weißbrot zum Trocknen.
Wie viele andere Geschichten dieses Krieges, beginnt auch die von Anna Iwanowa mit einem Handy-Video. Gefilmt von ukrainischen Soldaten, die Anfang März mit einer Tüte Lebensmittel vor dem Hoftor der Alten auftauchten. Das Dorf Welikaja Danilowka am Nordrand von Charkiw, wo Anna und Iwan wohnen, war damals vorderste Front, wurde häufig beschossen. Und Anna sagt, sie habe gedacht, es seien russische Soldaten. „Ich wollte ihnen zeigen, dass wir auch eine russische Flagge haben.“
„Und Sie glauben, die russische Fahne ist rot?“
„Welche Farbe hat sie denn sonst?“
„Weißblaurot.“ Die alte Frau staunt.
Auf dem Video steht Anna vor einem ukrainischen Hünen. Sie hält eine Sowjetflagge hoch. „Wir haben natürlich auf euch gewartet, haben für euch gebetet und für Putin, für das ganze Volk“ verkündet Anna. Im Krieg, erst recht im Frontgebiet, haben alte, wehrlose, Leute wohl das Recht auf Opportunismus. Der Ukrainer lacht, gibt ihr die Lebensmitteltüte, nimmt ihr aber die rote Fahne ab, wirft sie zu Boden und stellt sich drauf.
Von russischen Medien entdeckt
Anna Iwanowa ist empört: „Für diese Fahne haben meine Eltern gekämpft“, schimpft sie auf dem Video und gibt die Lebensmittel zurück. Unklar, warum die Ukrainer diese hässliche Szene ins Internet brachten, aber Anfang April entdeckten es die russischen Medien. Moskauer Staatsfernsehmoderatoren entsetzten sich im Chor, wie grausam die alte Frau verhöhnt worden sei.
In Russland tauchten Plastik-, Holz- und Pappfiguren der kleinen Frau mit der Fahne auf, auch Graffiti und Gedichte. Und im noch nicht völlig eroberten Mariupol weihte Sergei Kirijenko, stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung, ein Denkmal für Anna Iwanowa ein. Dabei kannten weder Kirijenko noch andere Russen ihren Namen. „Oma Sieg“ oder „Oma Z“ wurde sie im Internet getauft. Und das russische Onlinegeschäft Ozon verkauft Aufkleber mit der Rotbanneroma für umgerechnet vier Euro.
Aber an die geblümte Stofftasche, die am Kopfende des Bettes steht, hat Anna eine Schleife in den blaugelben Nationalfarben der Ukraine gebunden. Offenbar ist ihr nicht geheuer, dass sie selbst zur Ikone der Kriegspropaganda geworden ist. Und das auch noch auf der anderen Seite der Front. „Was fange ich mit so einer Berühmtheit an?“, ihr braunäugiger Blick ist unfroh.
Natürlich verstehe sie, dass Russlands mit seinem Krieg gegen die Ukraine Unrecht tue. „Was sind wir denn für Faschisten? Wir haben ihnen doch nichts Böses getan.“ Aber sie betet nicht für den Sieg über Russland, sie betet dafür, dass „unser Präsident“, der Ukrainer Wolodymyr Selenskyj eine Verhandlungslösung findet. Irgendwie hat ihre Friedensliebe etwas Indifferentes, etwas vom Pazifismus Alice Schwarzers.
Bei der Roten Fahne aber bekennt sie Farbe. „Sie ist doch rot, das bedeutet Liebe.“ Nicht Blut? „Das ist auch die Farbe vergossenen Bluts, wie Jesus Christus sein Blut vergossen hat – für das Volk.“ So hätten auch die Rotarmisten im Krieg gegen Hitler ihr Blut vergossen. Für den Frieden.
Sie ist 69, so alt wie Putin, wie er ist sie Sowjetmensch. Ihre ukrainische Gegenwart ist auch ohne Krieg kein Schlaraffenland, Anna und ihr Mann bekommen zusammen umgerechnet knapp 380 Euro Pension. Aber auch ihre Vergangenheit ist bitter, ihre zwei Töchter starben als Kinder durch Feuer, ihre beiden Söhne später durch Mord und Totschlag. Anna hat sich in russisch-orthodoxe Frömmigkeit gerettet, punktiert ihre Erzählungen mit Kreuzzeichen. „Herr erbarme dich unser!“ Das rote Banner des Sowjetkommunismus als Symbol christlicher Selbstaufopferung, die alte Anna hat sich eine sehr eigene Ideologie gezimmert.
Kampf gegen das Böse will illustriert werden
Sowie auch Russland. Angeblich führt es einen siegreichen Feldzug gegen den ukrainischen Neonazismus. Aber seit Beginn des Krieges sucht seine Öffentlichkeit ziemlich vergeblich nach Bildern, Zitaten oder Figuren, die den vermeintlichen Kampf gegen das Böse illustrieren könnten. Und ihr symbolträchtigstes Feindbild sind ukrainische Soldaten, die mit Lebensmittelpaketen für alte Leute durchs Dorf ziehen und – wie gemein – auf einer Sowjetfahne herumtrampeln, einem heraldischen Utensil, dass Moskau selbst vor 32 Jahren ausrangiert hat. Jetzt versucht man, den Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Fahne des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu rechtfertigen. Russland sehnt sich wie Anna Iwanowa weit in seine rote Vergangenheit zurück.
Die russischen Truppen nördlich von Charkiw haben sich zurückgezogen, Anna und Iwan sind nach Welikaja Danilowka zurückgekehrt. Es gilt, die von russischen Einschlägen herausgerissenen Fenster zu ersetzen, das Dach und den Zaun zu reparieren, auch die Beete müssten dringend bestellt werden. Anna sagt, sie würde gerne mit Putin reden: „Putin, statt die Ukraine zu bombardieren, bau besser auf den Feldern Weizen und Weißkohl an, um Russland und die Ukraine zu ernähren.“ Die Rote Fahne aber bewahrt sie auf, für alle Fälle.
Dmytro Durnjew