Noch bevor er den Sitzungssaal im Ratsgebäude betreten hatte, schoss Viktor Orbán eine volle Breitseite auf die Kommission ab: Es sei ein großer Fehler gewesen, das sechste Sanktionspaket samt einem Öl-Embargo zu verkünden, ohne das heikle Thema zuvor mit den Mitgliedsländern ausverhandelt zu haben.
Eine Argumentation, der auch der österreichische Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) folgt: Er sei sehr erstaunt über diese Vorgangsweise, jetzt werde „auf großer Bühne“ verhandelt statt im stillen Hintergrund. Österreich unterstütze die ungarischen Nachbarn bei ihren Forderungen. Die heiße Kartoffel lag damit bei den EU-Ländern, die sich nur mühsam in Richtung Kompromiss bewegten.
>>Kommentar von Andreas Lieb: Öl-Embargo: Jedes Land hat seine offenen Rechnungen
Sanktionspaket Nummer sechs
Dieser zeichnete sich im Lauf des Tages immer deutlicher ab, kurz vor Mitternacht gab es dann die Einigung: Paket Nummer sechs enthält demnach zwar ein Öl-Embargo, das sich aber vorerst nur auf Schiffslieferungen bezieht – betroffen davon sind westliche Mitgliedsländer, die Binnenstaaten im Osten können weiterhin russisches Öl über die beiden Stränge der Druschba-Pipeline beziehen.
Das Embargo betreffe "sofort" mehr als zwei Drittel aller Ölimporte aus Russland, schrieb Ratspräsident Charles Michel auf Twitter. Damit verliere das Land eine "riesige Finanzquelle für seine Kriegsmaschinerie", betonte Michel. Man übe "maximalen Druck" auf das Land aus, "den Krieg zu beenden". Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ergänzte unmittelbar danach, der Deal werde bis Jahresende rund 90 Prozent der russischen Ölimporte in die EU beenden.
Zu den noch offenen technischen Fragen gehören die wettbewerbsrechtlichen Bedingungen: So dürfte etwa Ungarn nicht raffinierte Produkte, die aus billigem russischem Öl stammen, auf den europäischen Markt bringen. Orbán schwenkte auf diese Lösung ein: Der Ansatz, Öllieferungen über Pipelines auszunehmen, sei durchaus gut. Allerdings brauche Ungarn Garantien für den Fall, dass die Pipeline blockiert werde, setzte Orbán dann noch eins drauf.
Weitere Sanktionen werden kommen
Ist das sechste Paket also das letzte? Keinesfalls, meint Kanzler Nehammer: „Wir müssen uns genau auf die Nischen konzentrieren. Das fünfte Paket ist schon recht smart gewesen, wir sehen zum Beispiel, dass in erbeuteten russischen Waffen elektronische Bauteile aus dem Westen verbaut sind.“ Die russische Rüstungsindustrie habe beim Ausfall der Lieferungen ein großes Problem, Nachbauteile aus Asien seien teuer. Nehammer: „Einen Seitenhieb kann ich mir nicht ersparen: Es ist jetzt von Öl und Gas die Rede, aber wir sprechen bis jetzt nicht über ein Uran-Embargo.“ Mit der Geschlossenheit in der EU solle man nicht leichtfertig umgehen, man müsse genauer darüber nachdenken, welche Sanktionen am ehesten das Kriegsgeschehen beeinflussen würden.
Im aktuellen Paket enthalten sind Sanktionen gegen weitere Kreml-nahe Persönlichkeiten, darunter das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, und die ehemalige Turnerin Alina Kabajewa, der enge Verbindungen zu Präsident Putin nachgesagt werden. Fix ist der Ausschluss von drei russischen Banken aus dem internationalen Finanzsystem Swift, darunter die Sberbank.
Im Streit um das Embargo traten die eigentlichen Themen des Sondergipfels, bei dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zugeschaltet war, in den Hintergrund. Fieberhaft wird an der Einrichtung von „grünen Korridoren“ gearbeitet, um den Export von rund 20 Millionen Tonnen Getreide aus den ukrainischen Schwarzmeerhäfen zu ermöglichen – die Frage ist, wie weit man dem Kriegsherren Putin beim Verhandeln trauen kann. Generell einig ist sich die EU über die Finanzhilfen für die Ukraine, es fehle aber noch „Finetuning“, wie es ein EU-Diplomat nennt. Beim Abendessen wurde über das riesige Thema Energie (das Projekt „RePowerEU“) gesprochen. Der mögliche Kandidatenstatus der Ukraine für einen EU-Beitritt ist frühestens beim Juni-Gipfel Thema, im Entwurf zur Schlusserklärung wird diesmal jedoch ausdrücklich der Westbalkan erwähnt.