Putin hat auch Weißrussland in den Ukraine-Krieg hineingezogen. Von weißrussischem Territorium aus wurden Raketen auf die Ukraine abgeschossen. Russische Truppen sind seit der "Militärübung" in Weißrussland stationiert. Zugleich stehen viele Menschen in Weißrussland weder hinter Diktator Lukaschenko, noch hinter Putin. Sind Sie zwischen die Fronten geraten?
JULIA CIMAFIEJEVA: Die Lage ist für uns sehr schwierig. Ich habe den Pass eines Landes, dessen Politik ich in keinster Weise mittrage. Ich habe viele Freunde in der Ukraine, die in bombardierten Städten leben. Wir werden beschuldigt, und ich fühle mich, wie viele Weißrussen, schuldig, obwohl wir nie für Lukaschenko gestimmt haben und gegen ihn protestierten. Einige Soldaten in Weißrussland haben den Kriegsdienst verweigert. Auch wurden die Bahnschienen von Weißrussland in die Ukraine, auf denen russische Panzer transportiert werden sollten, von weißrussischen Zivilisten zerstört, um diese Transporte zu verhindern. Mehr als 800 Menschen landeten im Gefängnis, weil sie trotz aller Gefahren gegen den Krieg protestierten. Viele waren und sind schwerer Folter ausgesetzt. Sie haben gebrochene Rippen, ohne medizinisch versorgt zu werden. Auch jene, die die Zuggleise beschädigten und festgenommen wurden, trugen Folterspuren im Gesicht. Zwei von ihnen wurde nach ihrer Festnahme in die Beine geschossen.
Hat Lukaschenko, um an der Macht zu bleiben, Weißrussland und die Unabhängigkeit des Landes an Putin verkauft?
Weißrussland ist heute unter zweifacher Okkupation – unter jener Lukaschenkos, der sich mit kriminellen Methoden und polizeistaatlichen Methoden an der Macht hält. Und zugleich ist Weißrussland jetzt auch von Putins Russland besetzt. Seine Truppen kamen unter dem Vorwand einer militärischen Übung und sind nie mehr abgezogen. Jetzt nutzen sie unser Territorium im Krieg gegen die Ukraine. Aus meiner Sicht hat Weißrussland unter Lukaschenko zumindest für jetzt seine Unabhängigkeit verloren. Und mit den Wirtschaftssanktionen, die der Westen auch gegen Weißrussland, ein sehr armes Land, verhängt hat, wächst auch die finanzielle Abhängigkeit von Russland noch mehr.
Ihr Bruder, seine Frau und einige Ihrer Freunde wurden von Lukaschenko festgenommen. Haben Sie Nachrichten von ihnen?
Im Moment gibt es 1108 Häftlinge in Weißrussland, die als politische Gefangene anerkannt wurden. Dazu kommen die 800, die gegen den Krieg in der Ukraine demonstriert haben. Auch mein Bruder und seine Frau sind aus politischen Gründen inhaftiert, sie wurden zu 1,5 Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Ihrer Berufung gegen das Urteil wurde nicht stattgegeben. Normalerweise erhalte ich regelmäßig Post von meinem Bruder und meiner Schwägerin, aber seit einigen Wochen ist nichts mehr gekommen. Sie versuchen, nicht aufzugeben und den Mut nicht zu verlieren. Psychisch ist die Lage natürlich sehr schwierig; sie müssen sich die Zelle mit Leuten teilen, die wegen Kriminalität und Gewaltverbrechen verurteilt wurden.