Der Russland-Experte der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, glaubt derzeit nicht an eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg. Eine solche würde jedoch wahrscheinlicher, wenn sich die militärische Situation zuungunsten Russlands entwickelt oder "das Ganze zum Abnützungskrieg wird", analysierte Mangott im APA-Interview. Dann wäre eine "Aufweichung der Kern-Forderungen sicherlich möglich". Auch eine militärische Niederlage Russlands schloss er nicht aus.
Ein "ehrenvoller Abzug", zu dem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Putin am Freitag aufgefordert hatte, sei jedenfalls "völlig illusionär", befand Mangott und unterstrich: "Es gibt für Putin keinen ehrenvollen Abzug, solange er seine Kriegsziele nicht erreicht hat." Zu den drei russischen Kern-Forderungen zähle zum einen die "demilitarisierte Neutralität der Ukraine", zum anderen die Anerkennung der Zugehörigkeit der Krim zu Russland und die der Unabhängigkeit der Donbass-Republiken – in den Provinz- und nicht den aktuell kontrollierten Grenzen. Aktuell lägen die Positionen der beiden Kriegsparteien weit auseinander, hielt Mangott fest.
Putin könne jedenfalls keiner Verhandlungslösung zustimmen, die "ihm nicht mehr bringt, als er vor dem Krieg hatte". Nach "so vielen toten russischen Soldaten, den Sanktionen des Westens, der militärischen Aufrüstung der Nato und den Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine" könne er jedenfalls nicht zurück zu einem "Status quo ante", so der Politikexperte weiter. So etwas sei nur im Falle eines "schmachvollen Abzugs" denkbar.
Putin zu militärischer Eskalation bereit
Putin sei bereit, "jede militärische Eskalation durchzuführen, von der er glaubt, dass sie der russischen Seite den militärischen Sieg bringt", erklärte Mangott. Den Einsatz von Nuklearwaffen hielt er dennoch für unwahrscheinlich – "auch wenn dieser in den letzten Wochen – vor allem aufgrund des ungünstigen Verlaufs der Auseinandersetzungen für die russischen Streitkräfte – wahrscheinlicher wurde". Er halte indes einen "demonstrativen Einsatz von Nuklearwaffen" als wahrscheinlicher als den Einsatz von Chemie- oder biologischen Waffen, kommentierte der Politikwissenschaftler die aktuelle Debatte.
Kein Gewinn durch Chemiewaffen
Ein solcher Einsatz von Chemie- oder biologischen Waffen würde zudem, so die Meinung des Russland-Experten, keinen "großen militärischen Gewinn bedeuten", sondern zu einer "weiteren Ächtung Russlands in der internationalen Gemeinschaft" führen. Denn offiziell habe Russland keine Chemiewaffen und sei der Chemiewaffenkonvention verpflichtet. Er würde "erstens gegen internationales Recht verstoßen, zweitens deutlich machen, dass Russland schlichtweg gelogen hat, als vor einigen Jahren behauptet wurde, dass das Land keine Chemiewaffen mehr besitze, und drittens wäre es ein Kriegsverbrechen", führte Mangott aus und fand einen drastischen Vergleich: "Das würde Putin endgültig auf eine Ebene mit Baschar al-Assad (dem syrischen Präsidenten, dem vorgeworfen wird, Giftgasangriffe im Jahr 2013 angeordnet zu haben, Anm.) heben."
Russland bezeichnete Warnungen der USA vor einem russischen Einsatz von Chemiewaffen in der Ukraine als taktisches Manöver. Es diene nur dazu, um die Aufmerksamkeit von für die USA unangenehmen Fragen abzulenken, sagte der Sprecher des Präsidialamtes in Moskau, Dmitri Peskow, am Freitag. Als "bloße Kriegspropaganda und Information zur Diskreditierung Russlands" dürfe man diese Warnungen nicht abtun, fand Mangott und erinnerte an die Prognosen amerikanischer Geheimdienste zu Beginn des Ukraine-Krieges, die sich – entgegen der Einschätzungen einer großen Zahl westlicher Expertinnen und Experten – bewahrheitet hätten.
USA als Sicherheitsgarant
Die USA sieht Mangott als "Garantiemacht für die europäische Sicherheit" für die kommenden Jahrzehnte. Die neue Sicherheitsordnung in Europa würde nicht mehr kooperativ-integrativ zusammen mit Russland funktionieren. Die Nato sei "zurück als Sicherheitsgarant" und die Sicherheit "ohne und vor Russland" werde "im Rahmen der Nato und nicht in Form selbstständiger europäischer Verteidigungskräfte" aufgebaut, prognostizierte Mangott. Es werde – "wenn es überhaupt dazu käme" – jedenfalls "zehn oder mehr Jahre dauern, bis Europa so etwas wie eine selbstständige Verteidigungsfähigkeit" erreichen würde.
Maria Retter/APA