Aus dem bombardierten Theater in der ukrainischen Stadt Mariupol sind laut einer Parlamentsabgeordneten bereits rund 130 Zivilisten gerettet worden. "Gute Nachrichten, die wir so dringend brauchen: Der Luftschutzkeller unter dem Theater von Mariupol hat standgehalten. Circa 130 Menschen wurden bereits gerettet", schrieb Olga Stefanyschyna am Donnerstag auf Facebook. Helfer seien damit beschäftigt, weitere Menschen zu befreien. "Es ist ein Wunder", schrieb Stefanyschyna.
Zuvor hatte der ukrainische Abgeordnete Serhij Taruta erklärt, dass der Schutzraum der Zivilisten wider aller Befürchtungen nicht zerstört wurde. Das Gebäude war ukrainischen Angaben zufolge am Mittwoch angegriffen und weitgehend zerstört worden. Kiew und Moskau gaben sich gegenseitig die Schuld. Behördenangaben zufolge hatten zum Zeitpunkt des Angriffs mehr als 1000 Menschen im Theater Schutz gesucht.
Auch am 22. Tag nach dem russischen Angriff meldet die Ukraine weiter Kämpfe und Zerstörung. Im Osten Kiews schlugen nach ukrainischen Angaben in der Nacht auf Donnerstag Trümmerteile einer abgefangenen Rakete in einem Hochhaus ein. Drei Bewohner seien verletzt und weitere Menschen gerettet worden, teilte der Rettungsdienst mit. Tausende konnten indes Mariupol verlassen. Moskau gab indes bekannt, ein Armeedepot in der westukrainischen Region Riwne getroffen zu haben.
Zunächst war in Kiew auch von einem Todesopfer die Rede gewesen. Der Brand in dem 16-stöckigen Gebäude sei gelöscht worden, hieß es. Andererseits soll die ukrainische Armee binnen 24 Stunden sechsmal vier Siedlungen in der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk (LNR) beschossen haben. Das berichtete die russische Agentur Tass mit Berufung auf Vertreter der Separatisten in der LNR in der Nacht auf Donnerstag. Dabei sei ein Haus zerstört und eines beschädigt worden, hieß es im Telegram-Kanal des LNR-Vertreters. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
"Wir erleiden schwere Verluste"
Der Gouverneur der nordukrainischen Stadt Tschernihiw berichtete indes von dutzenden Toten in seiner Stadt. Allein am Mittwoch seien 53 Menschen getötet worden, sagte Wjatscheslaw Tschaus am Donnerstag. "Wir erleiden schwere Verluste."
Die ukrainische Regierung meldete weiters den Abschluss von zwei weiteren russischen Kampfflugzeugen vom Typ Suchoi Su-35 und Su-30 über der Region Kiew. An Land konzentrierten sich russische Einheiten demnach vor allem auf die Sicherung ihrer Geländegewinne. Es gebe Bemühungen russischer Truppen, südlich der Stadt Isjum vorzudringen, wohl um eine Offensive in Richtung Slowjansk fortzusetzen. Dabei seien sie aber nicht erfolgreich.
Dagegen berichtete die russische Seite am Donnerstag von Erfolgen "gegen russische Nationalisten" rund um die Großstadt Sjewjerodonezk. Sprecher Igor Konaschenkow berichtete auch von Schlägen gegen ukrainische Truppen in der nahe gelegenen Stadt Rubischne. Im Gebiet Donezk gehe die Offensive ebenfalls weiter, sagte Konaschenkow. Der Vormarsch habe vier Kilometer betragen. Es seien weitere Dörfer eingenommen worden.
Britischer Geheimdienst: "Minimale Gewinne"
Zudem gab das Verteidigungsministerium in Moskau bekannt, ein ukrainisches Militärdepot in der westlichen Region Riwne getroffen zu haben. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder Luftangriffe auf Ziele in der Westukraine gegeben, um die Versorgung des Landes mit Rüstungsgütern westlicher Staaten zu treffen. Moskau hatte auch Nato-Rüstungstransporte außerhalb der Ukraine zu legitimen Zielen erklärt.
Die deutsche Journalistin und Moderatorin Dunja Hayali spricht auf Twitter von "Putins zynische TV-Märchenstunde. Auf dem Rücken von Menschen":
Der britische Geheimdienst teilte mit, dass der russische Vormarsch in der Ukraine praktisch überall zum Erliegen gekommen sei. Es habe in den vergangenen Tagen nur "minimale Gewinne" zu Land und Wasser sowie in der Luft gegeben, die russische Armee verbuche weiterhin "starke Verluste". Die ukrainische Verteidigung sei "standhaft und gut koordiniert".
Dem Bürgermeister der von russischen Truppen belagerten südukrainischen Hafenstadt Mariupol zufolge werden nun auch Privatautos aus der Stadt gelassen. Insgesamt hätten in den vergangenen zwei Tagen rund 6500 Autos Mariupol verlassen können, teilte Wadim Bojchenko in der Nacht auf Donnerstag über Telegram mit. Allerdings habe es keine Feuerpause gegeben. Die Menschen seien daher unter Beschuss aus der Stadt gefahren.
Menschen trinken Wasser aus Pfützen
Der Vize-Bürgermeister von Mariupol berichtete von katastrophalen Zuständen in der Hafenstadt. Besonders dramatisch sei die mangelnde Wasserversorgung, sagte Serhij Orlow dem Magazin "Forbes Ukraine". "Ein kleiner Teil der Menschen kann privat Wasser aus Brunnen entnehmen", sagte er in dem Interview, das ukrainische Medien am Donnerstag aufgriffen. Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, entnähmen manche Wasser aus den Heizungsrohren, um es zu trinken. "Manche sagen auch, dass sie es aus Pfützen nehmen. Als es Schnee gab, haben sie den geschmolzen."
Orlow sagte weiterhin, dass 80 bis 90 Prozent der Gebäude in Mariupol bombardiert worden seien. "Kein einziges Gebäude ist unbeschädigt." Er warf den Russen vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um so eine Kapitulation der Stadt mit ihren zu Kriegsausbruch 400.000 Einwohnern zu erzwingen. Russland beteuert stets, nur militärische Ziele anzugreifen.
"Mein Kind verhungert, was soll ich tun?"
Das Schlimmste für ihn sei, den Bewohnern nicht helfen zu können, sagte Orlow: "Eine Mutter ruft an, sie schreit nicht, sie schimpft nicht, sie fragt mit ruhiger Stimme: 'Ich halte mein Kind im Arm, es verhungert, was soll ich tun?' Und du hast keine Antwort auf die Frage." Für besonderes Entsetzen sorgte am Mittwochabend der Bericht über die Bombardierung eines Theaters, in dem Hunderte Zivilisten Zuflucht gesucht haben sollen. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für den Angriff verantwortlich.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in einer Videoansprache gesagt, die humanitären Korridore im Land hätten am Mittwoch nicht funktioniert. Auch er sagte, die russische Armee habe den Beschuss nicht eingestellt. Die ukrainische Seite sei zu Evakuierungen bereit, könne die Menschen aber nicht einem Beschuss auf der Straße aussetzen. Bewohnerinnen und Bewohner von Mariupol, denen es trotz allem gelungen sei, in die mehr als 70 Kilometer westlich gelegene Stadt Berdjansk zu kommen, bringe man weiter nach Saporischschja. Selenskyj zufolge sind binnen 24 Stunden mehr als 6000 Bewohner Mariupols weiterbefördert worden, darunter 2000 Kinder. Aber auch auf dem weiteren Weg habe es Beschuss in der Region Saporischschja gegeben. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
Bürgermeister gegen Soldaten getauscht
Selenskyj gab auch bekannt, dass der von den Invasoren verschleppte Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, wieder auf freiem Fuß sei. Offenbar erfolgte die Befreiung im Rahmen eines Austausches. "Russland erhielt für seine Freilassung neun Soldaten aus den Jahrgängen 2002 und 2003. Sie sind eigentlich noch Kinder", zitierte die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax die Pressesprecherin Selenskyjs, Darya Sariwnaja.