Über die folgende Geschichte spannt sich ein großer Schirm namens "Mut". Während der live übertragenen Hauptnachrichten des ersten Kanals des russischen Staatsfernsehens springt die Fernsehjournalistin Marina Owsjannikowa mitten in der Sendung hinter der Nachrichtensprecherin ins Bild. Für wenige Sekunden ist sie auf Millionen Bildschirmen in russischen Wohnzimmern zu sehen. In den Händen hält sie ein Plakat, auf dem handgeschriebene Botschaften, wie "Kein Krieg", "Beendet den Krieg", "Glauben Sie der Propaganda nicht", "Hier werden Sie belogen" und, "Russen gegen den Krieg", stehen.
Dazu sagt sie immer wieder: "Nein zum Krieg. Nein zum Krieg." Solange, bis die Übertragung plötzlich abbricht und die Regie einen Videobeitrag einspielt. Mut kann man sich bekanntlich nicht kaufen, doch könnte ihr der in Form des Protests teuer zu stehen kommen.
Ein vom Pianisten Igor Levit gepostetes Twitter-Video zeigt den Auftritt von Owsjannikowa:
Owsjannikowa kommt 1978 als Tochter eines Ukrainers und einer Russin in Odessa, in der damaligen Sowjetunion, zur Welt. Heute ist sie bereits selbst Mutter zweier Kinder. In sozialen Medien wird ihre Liebe zu Golden Retrievern deutlich, vergangenes Jahr dokumentierte sie die Aufzucht mehrerer Welpen. Während ihres Studiums an der Staatlichen Universität Kuban und der Russischen Präsidentenakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung in Moskau ging Owsjannikowa dem wettkampfmäßigen Schwimmsport nach, dem sie bis heute als Freiwasserschwimmerin eng verbunden ist.
Schon seit einigen Jahren ist sie beruflich für das russische Staatsfernsehen im Einsatz, zuvor war sie beim Regionalsender "Kuban TV" angestellt. Der Protestaktion ging eine entsprechende Ankündigung der 44-Jährigen voraus. In diesem Video bezeichnet sie den Krieg in der Ukraine als "Verbrechen", an dem alleine Wladimir Putin Schuld trage. Im Zuge ihrer Arbeit beim Ersten Kanal habe sie sich viel mit Kreml-Propaganda beschäftigen müssen. "Ich schäme mich jetzt sehr dafür", sagt sie.
Sehen Sie hier das gesamte Video mit englischen Untertiteln:Nach der Sendung wurde Owsjannikowa umgehend festgenommen. Erst wusste niemand, wo sie sich befindet - auch nicht ihre Anwälte. Mittlerweile twitterte die Washington Post Korrespondentin Mary Ilyushina ein erstes Foto der Fernsehjournalistin seit ihrem aufsehenerregenden Protest.
Nun wurde bekannt, dass sie bereits vor Gericht ist. Der prominente russische Journalist Alexej Wenediktow veröffentlichte am Dienstag in einem Telegram-Kanal ein Foto von der TV-Journalistin mit ihrem Anwalt Anton Gaschinski in einem Gerichtsgebäude. Russische Medien berichteten, dass die TV-Mitarbeiterin wegen der Organisation einer nicht erlaubten öffentlichen Aktion belangt werde. Ihr droht demnach eine Arreststrafe von zehn Tagen oder 30.000 Rubel (226 Euro) Ordnungsstrafe oder bis zu 50 Stunden gemeinnützige Arbeit.
Zunächst war eine schlimmere Strafe befürchtet worden, denn erst vergangene Woche verschärfte Moskau die Gesetzeslage für Journalisten drastisch: Auf nicht genehme Berichterstattung stehen bis zu 15 Jahre Haft. Auch der Kreml selbst sah sich gezwungen, auf Owsjannikowa zu reagieren. "Was dieses Mädchen angeht, das ist Rowdytum“, verurteilt Kreml-Sprecher Peskow die Aktion. Nicht einmal Staatsmedien kamen umhin, darüber zu berichten.
Auch wenn der Kreml abermals eine kritische Stimme zumindest vorübergehend zum Schweigen brachte, bleiben ihre Sekunden im Fernsehen für den Frieden in Erinnerung. "Es liegt an uns, diesen Wahnsinn zu beenden. Geht demonstrieren. Fürchtet nichts", appellierte Owsjannikowa vor ihrer Festnahme. Schlusssatz: "Sie können uns nicht alle einsperren."
Simon Rothschedl