Mariupol. Das war noch vor drei Wochen eine Stahl- und Universitätsstadt am Asowschen Meer, die davon träumte, Touristen an ihre Sandstrände zu locken. Ein wichtiges Zentrum auf der Verbindungslinie von Russland zur Krim. Seit zwei Wochen ist alles anders. Die Stadt wird mit Bombenangriffen überzogen. Bilder zeigen schwarze Rauchschwaden über der Stadt, zerschellte Häuserfassaden, Schwangere, die aus dem am Mittwoch völlig zerstörten Krankenhaus flüchten, blutüberströmte Helfer, verletzte Kinder, für die im Krankenhaus jede Hilfe zu spät kommt; Tote in den Straßen, Massengräber.

"Mariupol war eine Stadt, in der ich gerne gewohnt habe. Jetzt leben die Menschen hier in der Hölle. In meinen ärgsten Albträumen hätte ich mir das nicht vorstellen können." Das erzählt Diana, eine 35-jährige Ukrainerin – und stockt. Seit mehr als einer Woche sind die 500.000 Einwohner von russischen Truppen eingekesselt; gestern meldete Russland die komplette Einschließung. "Mit allen erdenklichen Waffen" werde die Stadt und ihre zivile Infrastruktur attackiert, erklärte der Bürgermeister kürzlich. Bisher sind Versuche, humanitäre Korridore zu errichten, gescheitert; auf Flüchtende soll geschossen worden sein.



"Am fünften Tag der Invasion wurde das Elektrizitätswerk zerstört. Seit damals gibt es kein Licht mehr, kein Fließwasser, keine Heizung. Viele Menschen haben wegen der Belagerung nichts mehr zu essen", erzählt sie. "Kein Telefonnetz, kein Internet. Völlige Isolation vom Rest der Welt. Und man weiß nie, ob man den nächsten Tag erlebt." Die Toten werden in Plastiksäcke verpackt, weil es keine Möglichkeit für feierliche Begräbnisse mehr gibt. "Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, ob meine Freunde aus anderen Stadtvierteln überhaupt noch am Leben sind. Kommunizieren können wir nicht", sagt Diana. Vor wenigen Tagen starb ein Mädchen an Dehydrierung. "Sie beschießen unsere Häuser, sie werden immer härter und brutaler. Zugleich riegeln sie die Stadt ab. Sie wollen uns auslöschen. Dass man hilflose Zivilisten angreift, ist kein Krieg, sondern Terror und Massenmord."



Diana sitzt zu dem Zeitpunkt, wo wir miteinander sprechen, im Auto, auf einer rasenden Fahrt Richtung Westen. Der jungen Frau und ihrem Mann ist gelungen, wovon viele träumen: Bevor sich der Belagerungsring zur Gänze schloss, sind sie entkommen, "im Dauerbeschuss, im Raketenhagel". Jetzt haben sie es geschafft und hoffen, bis Lemberg durchzukommen, "aber wirklich sicher", sagt sie, "ist man in der Ukraine heute nirgends mehr".



Mittlerweile seien fast alle Ausfahrtstraßen aus Mariupol zerstört oder vermint. "Das ist Teil der Tragödie: Es gibt praktisch keine Möglichkeit mehr, herauszukommen und keine Möglichkeit, Medikamente oder Nahrungsmittel, in die eingeschlossene Stadt zu bringen." Viele Menschen kochen am offenen Feuer oder gar nicht mehr.

Dianas Muttersprache ist Russisch, das heißt, sie wäre eigentlich eine jener Personen aus der Ostukraine, die Wladimir Putin vorgibt, "retten zu müssen". Jetzt flieht die junge Frau, die früher Kunstprojekte organisierte, vor den russischen Truppen, und es ist nicht ihre erste Flucht: Ursprünglich stammt sie aus Donezk, aus den Separatistengebieten. "Vor den Kämpfen dort musste ich vor acht Jahren fliehen, nach Mariupol. Jetzt verliere ich zum zweiten Mal mein Zuhause – wegen Putin."