Wie ist die Lage für die noch verbliebenen Kinder und Familien?
CHRISTOPH JÜNGER: Der nächstliegende Vergleich in meiner eigenen Lebenszeit wäre für mich noch der Balkankrieg, aber selbst dieser trifft hier nicht zu. Die Situation ist, gelinde gesagt, nicht hoffnungserweckend. Ganz zu schweigen, was sich abspielen wird, wenn der Kampf in Kiew einmal voll losgeht.
Was berichten Ihre Kollegen, die jetzt vor Ort sind?
Wir sind in Kontakt über die Gesamtorganisation, wir bekommen laufend Updates und Erste-Hand-Berichte. Auch unsere Kräfte müssen vor Angriffen in die Keller flüchten. Unzählige Familien und Kinder werden laufend voneinander getrennt – es gibt viele unbegleitete Minderjährige, diese Zahl steigt stark. Die Lage verändert sich fortlaufend, besser gesagt: Sie wird stündlich schlimmer. Wir haben 1,5 Millionen Flüchtlingsankünfte seit Kriegsbeginn am 24. Februar.
Was können die "Humanitären Korridore" jetzt bringen?
Sichere Korridore beziehungsweise Fluchtkorridore wären essenziell, um die Menschen zu erreichen und herauszubringen. Auch Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell fordert ihre Errichtung vehement, denn die Not der Kinder wächst mit jedem Tag. Wir arbeiten in einem Geflecht von Hilfsorganisationen, etwa mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder auch "Save The Children".
Wie sieht es nun mit der zivilen Infrastruktur in der Ukraine aus?
Auch diese wird angegriffen, das ist gesichertes Wissen. Vielen ist nicht bewusst, dass man bei uns den Wasserhahn immer aufdrehen kann: In der Ukraine gibt es diesbezüglich schon massive Probleme. Außerdem gibt es einen Engpass bei Medikamenten, die medizinische Versorgung ist schwierig bis unmöglich. Entlang der Flüchtlingsrouten geht es natürlich auch um Lebensmittel. Es gibt Berichte einer Familie, die es nicht mehr aus ihrer Wohnung im achten Stock in den Keller schaffte. Oder das Schicksal eines Säuglings in Lwiw, der in der Coronakrise geboren wurde, hoch allergisch ist, und dringend medizinische Versorgung brauchte: Unicef organisierte es, dass Ärzte in den Bunker gelangten, um das Kind zu versorgen. Die Geburtenstationen mussten in Kellerräume verlegt werden.
Gibt es Kinder, die ohne Eltern als Flüchtlinge unterwegs sind?
Es gibt Eltern, die es zur Grenze schaffen, dort ihre Kinder abgeben müssen und dann noch einmal zurückmüssen, etwa um andere Familienmitglieder zu holen. Das sind hunderttausendfache Schicksale, die das Grauen des Kriegs sehr greifbar machen. All das ist Realität. Wichtige ist der Aufbau der "Blue Dots" entlang der Flüchtlingsrouten, also die "blauen Punkte", an die sich die Flüchtlinge wenden können, um Hilfe und Orientierung zu bekommen. Es geht hier um Grundbedürfnisse – also Lebensmittel, aber auch Hygieneartikel und Medikamente.
Erreichen Sie die Menschen angesichts des Kriegs überhaupt?
Aufgrund der Kampfhandlungen kommen wir eingeschränkt zu ihnen, aber wir versuchen, was menschenmöglich ist. Wir sind seit 20 Jahren vor Ort, helfen und bleiben. Vor allem die Ost-Ukraine, aber auch der Gesamtstaat, war ohnehin fragil. Acht Jahre Konflikt hinterließen eine halbe Million Kinder mit großem Hilfsbedarf – diese Not multipliziert sich nun stündlich. Wir hatten in der West-Ukraine wegen Impfunterbrechungen außerdem einen Polio-Ausbruch – und wir sind noch mitten in der Corona-Pandemie. Der Druck war also bereits vorher groß – in der aktuellen Situation eskaliert er.
Man muss annehmen, dass es auch großen Bedarf an psychologischer Hilfe gab und gibt …
So ist es, ein großer Schwerpunkt im Rahmen der Programme unserer fünf Büros in der Ukraine war und ist psychosoziale Betreuung: Man muss mit Kindern arbeiten, ihnen zuhören und erklären, was Krieg ist. Es geht darum, daran zu arbeiten, dass Familien nicht auseinanderbrechen. Nicht zu vergessen: Die Ost-Ukraine ist das verminteste Gebiet der Welt.