Am Samstag, dem zehnten Tag der russischen Invasion in der Ukraine, sollten die Waffen vorübergehend schweigen. Zumindest in den beiden ostukrainischen Städten Mariupol und Wolnowacha, wo Russland nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Interfax der Einrichtung sogenannter humanitärer Korridore zugestimmt hat, damit die Zivilbevölkerung die belagerten Städte sicher verlassen kann. Später am Tag bestätigte auch die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin Iryna Vereshchuk weitere geplante Korridore in den Städten Sumy, Charkiw, Cherson und in den Außenbezirken von Kiew. "Was Kiew betrifft, wissen wir allerdings nicht, ob diese Zivilisten die Stadt verlassen sollen, oder stattdessen ins Zentrum gebracht werden", erklärt Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Denn auch das sei eine Möglichkeit. Am Samstag erreichten uns Bilder aus Irpin westlich von Kiew, auf denen Zivilisten zu sehen sind. Reisner hat diese Bilder analysiert und betont: "Diese Menschen sind nicht auf dem Weg nach Westen, sondern zurück nach Kiew."

Die Hauptstadt blieb indes nach Süden hin weiter offen, das sei auch im Interesse der Invasoren, die Schlagzeilen über zivile Opfer möglichst vermeiden wollen.

In Mariupol hat die Evakuierung durch den Korridor am Samstag jedenfalls nicht funktioniert. Am Sonntag gab es einen neuerlichen Anlauf. Demnach war wieder eine mehrstündige Feuerpause vereinbart, um ab 11.00 Uhr deutscher Zeit die Evakuierung zu starten.

Diese ist gescheitert. Prorussische Separatisten und ukrainische Streitkräfte beschuldigten sich gegenseitig, für das Nichtzustandekommen eines humanitären Korridors verantwortlich zu sein, wie die Nachrichtenagentur Reuters sowie ukrainische und russische Medien berichten. Nach Angaben der Separatisten konnten nur 300 Menschen die Stadt verlassen. Ukrainische Behörden hatten ursprünglich geplant, mehr als 200.000 Personen zu evakuieren.

Oberst Markus Reisner, Experte für moderne Kriegsführung
Oberst Markus Reisner, Experte für moderne Kriegsführung © (c) Kurt Kreibich, BMLV

Nach ukrainischen Angaben habe sich Russland am Samstag nicht an die Feuerpause gehalten. Daher habe man die Evakuierung "aus Sicherheitsgründen" verschoben. Russland hingegen wirft der Ukraine vor, dass "Nationalisten" den Abzug der Bevölkerung verhindert hätten. "Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wer in diesem Fall die Wahrheit sagt", meint Reisner. Plausibel seien beide Varianten, denn wenn die Zivilbevölkerung weg ist, befinden sich nur noch "legitime Ziele" in den Stellungen der Verteidiger. "Dann hindert die russische Armee nichts mehr an einem großflächigen Bombardement der Städte, um die eigenen Verluste im Häuserkampf geringer zu halten." Reisner erinnert in diesem Zusammenhang an die vollkommene Zerstörung der tschetschenischen Stadt Grosny durch russischen Beschuss. "Das könnte auch auf die Ukrainer zukommen."

Auch im Syrien-Krieg gab es immer wieder humanitäre Korridore, die laut Reisner mal besser, mal schlechter funktioniert haben. Wenn es nicht funktioniert hat und die Zivilbevölkerung in den Kampfzonen verblieben ist, erklärten die Russen nach Ablauf der von ihnen gestellten Ultimaten kurzerhand alle verbliebenen Menschen als legitime militärische Ziele. 

Die russischen Truppen in der Ukraine setzten am späten Samstagnachmittag die Angriffe auf Mariupol und Wolnowacha fort. Von strategischer Bedeutung ist vor allem die Hafenstadt Mariupol, wo sich die russischen Streitkräfte aus der Donbass-Region mit jenen aus der Krim vereinen. "Russland kann damit nun leichter in den Westen vorrücken", erklärt Reisner, der den Konflikt laufend beobachtet und analysiert. Die Stadt Cherson wollen sie nach eigenen Angaben eingenommen haben.

Informationskrieg

Am Freitag habe man erstmals den Einsatz von "Leer-3"-Drohnen auf russischer Seite beobachten können. Diese dienen nicht der Zerstörung von Zielen. "Vereinfacht gesagt ist das eine Art fliegender Handymast", beschreibt der Experte für moderne Kriegsführung. Damit kann sich die russische Armee mit Mobiltelefonen der Ukrainer verbinden und Nachrichten senden, die vermeintlich von Freunden oder der ukrainischen Führung stammen, um so falsche Informationen zu streuen, den Widerstand zu brechen und eine Aufgabe zu erwirken.

Russland verstärkt also seine Bemühungen weiter, während sich die Ukrainer in einen Abnützungskrieg verwickeln und kaum noch Aussichten auf Erfolg haben. Reisner: "Die Verteidiger können nur noch hoffen, dass der Druck aus dem Ausland oder der eigenen Bevölkerung auf Russland groß genug wird." Russland hingegen kann immer neues Material heranführen und hat auch die Luftschläge wieder verstärkt. "Dass der kilometerlange russische Konvoi immer noch nicht attackiert wurde, zeigt, dass sich die militärischen Möglichkeiten der Ukrainer immer weiter verringern."

Das dürfte auch die türkischen Bayraktar-Drohnen betreffen, von denen die Ukraine noch vor Ausbruch der Kampfhandlungen 36 Stück erworben hat. Diese haben sich aus militärischer Sicht im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt um die Region Bergkarabach bewährt und würden auch eine ernsthafte Bedrohung für die russischen Konvois darstellen.

Problemlos gestalte sich die Versorgung der russischen Truppen jedoch nicht, betont Reisner. Es scheint immer noch logistische Schwierigkeiten zu geben. Im Osten des Landes gelinge es den Ukrainern zudem immer wieder, die russischen Konvois zu sabotieren und damit zu verzögern.

Indes werden die russischen Truppen versuchen, entlang des Flusses Dnepr Brücken zu kontrollieren und sich im Westen des Landes festzusetzen, schätzt Reisner.