Sollte es in der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu einem Häuserkampf kommen, könnten die Kämpfe Monate dauern und auf beiden Seiten zu hohen Verlusten führen. "Der Ortskampf ist einer der schwierigsten und blutigsten Kämpfe, die es gibt", erklärt Major Klaus Kuss vom Österreichischen Bundesheer im Gespräch mit der APA. Wenn die Russen die 3-Millionen-Einwohner-Stadt Kiew Haus für Haus erobern müssen, dann werde das Wochen und bei erbittertem Widerstand auch Monate dauern.
Die großen Gefahren bei einem Häuserkampf sind Hinterhalte, Sprengfallen und subkonventionelle Kampfmethoden wie etwa der Bewurf mit Molotowcocktails. Während sich ein Soldat in der Fläche, auf einem Feld oder im Wald leicht bewegen und das Gelände überblicken kann, ist er in der Stadt einer 360-Grad- Bedrohung ausgesetzt. "Bei 4000 Fenstern kann aus jedem einzelnen geschossen werden, hinter jeder Tür kann ein Feind lauern." Im bebauten Gelände sei es schwieriger, sich zu orientieren. "Man hat es mit einem dreidimensionalen Feld zu tun", so Kuss, Hauptlehroffizier für Sonderausbildung an der Heerestruppenschule.
Psychologische Wirkung
"Ein Ortskampf ist emotional und körperlich anstrengend, intensiv und zermürbend." Es mache einen Unterschied, ob man den Feind aus der Ferne beschieße oder ihm ins Gesicht blicken und einen Nahkampf austragen müsse.
Für die Zivilbevölkerung sei es ratsam, die Stadt zu verlassen, sagt Kuss. "Wobei es geradezu unmöglich ist, dass alle drei Millionen Einwohner die Stadt verlassen." Jene, die bleiben, sollten sich aus Kampfhandlungen heraushalten. Erstens, weil eine Beteiligung an Kämpfe für sie tödlich sein könne, und zweitens, weil sie dadurch ihren völkerrechtlichen Schutz als Zivilisten verlieren und auch strafrechtlich belangt werden können. Am besten sei es, wenn sich die Zivilisten irgendwo verkriechen und den Kampfhandlungen aus dem Weg gehen.
Strategisch gesehen würde er anstelle der Russen einen Ortskampf vermeiden, sagt Kuss. Der Angreifer sei bei diesem Kampf im Nachteil und müsse mit hohen Verlusten und einem großen Ressourcenverbrauch rechnen.
Das sagt auch der Militärexperte Walter Feichtinger im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Um nicht in einen aufreibenden Häuserkampf verwickelt zu werden, setzen die russischen Streitkräfte auf ihre Feuerkraft. Damit würden sie aber die Grenzen des Völkerrechts überschreiten. Feichtinger spricht von einem "humanitären Desaster der Extraklasse". "Es ist eine unglaubliche Eskalation innerhalb eines Krieges, wenn man so große Städte mit Artillerie unter Beschuss nimmt und es darauf ankommt, alles in Schutt und Asche zu legen, damit der Widerstand erlahmt", sagt Feichtinger.
Aber diese Kriegsführung sei für Putin nicht neu, erinnert er an den Tschetschenienkrieg mit der Zerstörung Grosnys. "Mit Charkiw haben wir erste Vorzeichen dafür, dass es auch hier zu dieser Brutalität in der Kampfführung kommen kann."
Prinzipiell stützt sich die russische Armee auf die Stärke ihrer Artillerie, diese Waffengattung ist sogar Teil ihrer Doktrin. Im Kampf um die Eroberung einer Stadt spielt die Steilfeuerunterstützung aber nicht die Rolle, die ihr eigentlich zugedacht ist. Überhaupt verlieren moderne und schwere Waffensysteme im Häuserkampf fast alle ihre Vorteile. "Jede Armee ist daher bemüht, diesen Kampf Haus um Haus zu vermeiden. Im dicht verbauten Gebiet nützt ein Panzer, der drei Kilometer weit schießen kann, nichts mehr", erklärt Feichtinger.