Wo erreiche ich Sie?
SERHII LUKASHOV: In meiner Wohnung in Kiew. Während wir sprechen, höre ich Explosionen. Irgendwo ganz in der Nähe schlagen gerade Raketen oder Granaten ein.
Warum sind Sie nicht im Luftschutzbunker?
In der Nähe meiner Wohnung gibt es keinen Luftschutzbunker. Ich kann nur hoffen, dass unser Haus nicht getroffen wird.
Haben Sie Angst?
Natürlich. Jeder hat Angst. Ich habe vor allem Angst um unsere Kinder. Kinder sind die wehrlosesten und unschuldigsten Opfer des Krieges. Ich selbst bin erschöpft, schockiert und niedergeschlagen. Wie alle Menschen in unserem Land. Was sich in der Ukraine abspielt, ist eine unglaubliche Tragödie.
Wie geht es den Kindern in den SOS-Kinderdörfern?
Schlecht! Heute am frühen Morgen schlug in unmittelbarer Nähe unseres Kinderdorfes in Browary in der Nähe von Kiew eine Rakete ein. Weil wir befürchtet hatten, dass Browary angegriffen wird, hatten wir in den letzten Tagen die meisten Kinder in den Westen des Landes evakuiert. Zwei Familien wollten bleiben. Die Kinder wurden heute vom Raketeneinschlag geweckt. Alle Kinder haben geschrien und standen unter Schock. Den Rest des Tages haben die Kinder mit ihren Betreuern im Luftschutzkeller eines nahegelegenen Krankenhauses verbracht. Es wird lange keinen Schulunterricht geben.
Werden die Kriegsparteien humanitäre Organisationen wie SOS-Kinderdörfer verschonen?
Man kann nur hoffen, dass sie so zivilisiert sind. Derzeit glaube ich nicht, dass wir zu einer direkten Zielscheibe werden könnten. Aber darauf können wir uns nicht verlassen.
Einige SOS-Kinderdörfer wurden evakuiert. Folgen andere?
Nein, vorerst nicht. Evakuierungen wären derzeit mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Das ganze Land befindet sich jetzt im Krieg. Es gibt in der Ukraine keinen sicheren Ort mehr. Wir raten unseren Mitarbeitern und den von uns betreuten Familien derzeit, dort zu bleiben, wo sie sind.
Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Kinder?
Der Krieg schafft eine traumatisierte Generation. Wir haben das bereits in der Ostukraine erlebt. Die Kinder dort leben seit acht Jahren mit dem Krieg. Sie leiden unter Panikattacken und schwersten Depressionen. Das droht jetzt im ganzen Land. Es ist eine Katastrophe!
Philipp Hedemann