uf den verwackelten Aufnahmen, die bereits in den Morgenstunden auf den Telegram-Kanälen geteilt werden, ist in weiter Ferne ein hellroter Lichtschein zu sehen. Dann steigt ein erster Feuerball in die Luft, gefolgt von vielen weiteren Detonationen. Minutenlang ist dazu das dumpfe Dröhnen der Sekundärexplosionen zu hören, die der Einschlag in einem Munitionsdepot in der russischen Grenzregion Brjansk ausgelöst hat.

Munitionslager in Karatschew getroffen

Nicht viel später kommt dann auch die Bestätigung aus Russland. Die staatlichen Agenturen melden, dass die Militäreinrichtung von sechs ballistischen Raketen getroffen wurde, laut dem Verteidigungsministerium in Moskau sollen bei dem Angriff ATACMS aus US-Produktion zum Einsatz gekommen sein.

Exakt 1000 Tage nach dem russischen Überfall hat die Ukraine damit erstmals jene Raketen für einen Angriff im russischen Hinterland eingesetzt, auf deren Freigabe die Regierung in Kiew monatelang vergeblich gedrängt hatte. Der scheidende US-Präsident Joe Biden hatte erst vor zwei Tagen grünes Licht für Angriffe weit hinter den Frontlinien gegeben. Die Stadt Karatschew, in der sich das getroffene Munitionslager befindet, liegt 115 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.

Bisher durfte die Ukraine nur HIMARS-Raketenartillerie aus den USA gegen Ziele dicht hinter der russischen Grenze einsetzen, um die Offensive gegen die ostukrainische Großstadt Charkiw abzuwehren. Die vor kurzem erfolgte Freigabe der ATACMS-Kurzstreckenraketen, die über eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern verfügen, gilt vor allem als Reaktion Washingtons auf den Einsatz von knapp 10.000 nordkoreanischen Soldaten aufseiten Moskaus.

Lawrow beim G20-Gipfel

Am Dienstag werden die Auswirkungen des Angriffs von Russland zunächst heruntergespielt. So heißt es aus dem Verteidigungsministerium, dass fünf der Raketen abgefangen und eine beschädigt worden sei. Der Brand sei lediglich von herabfallenden Trümmern ausgelöst worden, Opfer habe es keine gegeben.

Wenige Stunden später setzt der russische Außenminister Sergej Lawrow beim G20-Gipfel in Brasilien dann einen anderen Ton. Lawrow spricht in Rio de Janeiro von einer neuen Phase des Krieges und kündigt eine „entsprechende Antwort“ an. Einmal mehr bedient sich der Außenminister dabei auch einer Taktik, die Russland schon in der Vergangenheit immer wieder angewandt hat, wenn Moskau die Lieferung oder den Einsatz westlicher Waffensysteme verhindern wollte. Er hoffe, dass die neue nukleare Doktrin Russlands aufmerksam zur Kenntnis genommen worden sei, erklärt Lawrow den versammelten Journalisten am Tagungsort des G20-Gipfels.

Westliche Sicherheitsexperten sehen Lawrows Ankündigung daher auch vor allem als Säbelrasseln an. Ein Einsatz von Nuklearwaffen habe für den russischen Präsidenten Wladimir Putin viel höhere Kosten, als er Russland Nutzen bringen würde, hat der in Oslo forschende Atomwaffen-Experte Fabian Hoffmann erst vor kurzem im Interview mit der Kleinen Zeitung erklärt. Die Regierung in Moskau würde dadurch auch für Länder wie China und Indien zum Paria, gleichzeitig würde der Einsatz einer taktischen Atomwaffe auf dem Gefechtsfeld keine militärisch entscheidende Wirkung entfalten.

Gerechnet wird nun damit, dass Moskau als Vergeltung vor allem in anderen Bereichen eskalieren wird. Als Szenario ist dabei nicht nur eine nochmalige Intensivierung der Luftangriffe auf zivile Ziele und die ukrainische Energieinfrastruktur vorstellbar. In westlichen Sicherheitskreisen geht man auch davon aus, dass Moskau vermehrt Sabotageakte in Europa verüben wird. Deutsche Geheimdienste haben bereits vor Wochen gewarnt, dass sie eine massive Zunahme derartiger Fälle beobachten.