Frieden ist ein hehres Ziel. Ganz besonders dann, wenn man den Krieg nie wollte. Morgen sind es 1000 Tage, seitdem Russland die Invasion in der Ukraine startete – mit der Absicht, das Nachbarland vollumfänglich ins eigene Staatsgebiet einzuverleiben. Gelungen ist das seither nicht, auch wenn die Bemühungen da waren. Täglich sterben in der Ukraine Soldaten und Zivilisten. In der ersten Novemberwoche setzte Russland laut Daten des „Armed Conflict Location & Event Data Projects“ zu 599 Luft-, Raketen- und Artillerieangriffen an, die Ukraine zu 25. Im selben Zeitraum kam es zu 427 direkten Zusammenstößen beider Armeen – so vielen wie noch nie seit Kriegsbeginn.
Die Hoffnung auf ein Ende des Grauens mischt sich in Appelle an beide Kriegsparteien, endlich die Waffen niederzulegen. Donald Trump hat im Wahlkampf mehrfach großspurig versprochen, innerhalb von 24 Stunden für einen Waffenstillstand zu sorgen. Beobachter befürchten einen Diktatfrieden, der den Konflikt einfriert und die Grenzen neu zieht. Wäre das eine Option?
Industrie würde in russische Hände fallen
Russland hat seit Beginn des Krieges größere Gebietsgewinne im Südosten der Ukraine verzeichnet. Am 3. Oktober 2022 stimmte das russische Parlament, die Duma, für die Annexion von Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Sollten die Gebiete in russischer Hand bleiben, ist die Ukraine empfindlich getroffen. Der Grund: Rund ein Viertel der ukrainischen Industrieproduktion und große Teile der Energieversorgung sind hier angesiedelt.
Elisabeth Christen, Außenhandelsexpertin des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, betrachtet das hypothetische Szenario eines Waffenstillstands mit den derzeit vorherrschenden Frontlinien als künftige Grenzen daher kritisch. „Es ist davon auszugehen, dass die Ukraine zwar anderweitig ihre Energieversorgung bereitstellen könnte, der Verlust der wichtigen Industriegebiete würde das Land jedoch empfindlich treffen“, sagt Christen.
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Ein großer Teil der ukrainischen Wirtschaftsleistung speist sich zudem aus den Exporten von Getreide, die aus den Schwarzmeerhäfen in Cherson auslaufen. Auch dieses Gebiet wäre – Stand jetzt – in russischer Hand. Nicht nur für die Ukraine wäre dies ein empfindlicher Schlag, der die Überlebensfähigkeit des Staates auf eine harte Probe stellen würde. Auch der Rest der Welt würde die Auswirkungen zu spüren bekommen.
Getreideversorgung mit großen Fragezeichen
„Wir wissen natürlich nicht, wie Russland damit umgehen würde, ob man die Getreidevorräte exportiert oder für die Versorgung der eigenen Bevölkerung verwendet. Der Markt reagiert auf diese Unsicherheiten naturgemäß sehr sensibel“, sagt Christen. Die Lebensmittelpreise würden demnach weltweit steigen. Anders als vor dem Krieg, als die Gebiete in ukrainischer Hand waren und so ein demokratischer Verhandlungspartner ein gewisses Maß an Planungssicherheit gegeben hat, wäre die russische Führung ein erhebliches Risiko für die Ernährungssicherheit.
Unklar ist, außerdem, wie sehr Russland an einem Waffenstillstand interessiert ist, „Putin hat zu Beginn der Invasion drei zentrale Ziele genannt: die Entnazifizierung der Ukraine, die Entmilitarisierung und die Herstellung eines neutralen Staates“, analysiert der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck. Hinter den Kriegszielen verbirgt sich die perfide Absicht, die Ukraine zu einem russischen Marionettenstaat umzubauen. Vorhaben, die bisher jedenfalls gescheitert sind. „Stand jetzt hat Russland kein Interesse an Verhandlungen, zumal man es bisher nicht geschafft hat, die ukrainische Regierung zu stürzen und mit prorussischen Kräften an der Spitze die Ukraine wieder zurück an den russischen Orbit anzugliedern“, sagt Mangott.
Russland gibt sich nicht zufrieden
Ein Kriegsende mit den nun von Russland mit Gewalt gezeichneten Grenzen dürfte zudem keinen langfristigen Frieden bringen, vermuten Christen und Mangott. „Eine Waffenruhe bietet Russland die Gelegenheit, wieder nachzurüsten und in drei, vier oder auch erst zehn Jahren erneut anzugreifen“, sagt Mangott. Er erachte einen Waffenstillstand nur dann als sinnvoll, wenn „die Ukraine militärisch hochgerüstet wird, damit sie auch ein ausreichendes Abschreckungsmittel hat“.
Derzeit fehlt es der Ukraine daran. „Was die Ukraine am dringendsten braucht, sind neue Waffen und Munition“, sagt der Militärexperte Gustav Gressel. Die USA hatten seit Februar 2022 insgesamt 65 Milliarden Dollar an die Ukraine für militärische Unterstützung überwiesen. Eine enorme Summe, die derzeit aber nicht ausreichend ist. Gerade vor dem einbrechenden Winter braucht die Ukraine Nachschub.
Gressel hält es für möglich, dass Trump seine Position dahingehend ändert: „Wir wissen, wie sprunghaft Trump bei solchen Fragen ist, vielleicht trifft die Ukraine bei ihm einen Nerv und erhält Munition und schweres Gerät“. Die Ukraine hätte dann einen Polster, der Krieg wäre jedoch nicht vorbei.