„Ich bin gelaufen und gelaufen“, sagt Lydia Lominowska. „Gelaufen, immer weiter gelaufen.“ Lominowska sitzt auf ihrem Bett in einer Notunterkunft und erzählt von ihrer Flucht aus ihrem Dorf Otscheretyne in der Ostukraine: Zu Fuß entkam sie Ende vergangener Woche den russischen Angreifern - trotz ihrer 97 Jahre.
„Ich habe so gelitten, Gott, ich war so müde!“ Langsam und ruhig kommen die Worte aus ihr heraus. Fragen muss man laut stellen, Lominowska ist ein bisschen schwerhörig, aber zäh und entschlossen. Über dem geblümten Kleid trägt sie eine rosafarbene Strickjacke, unter dem bunten Kopftuch lugt eine graue Strähne hervor, aus dem faltigen Gesicht stechen die kleinen blauen Augen heraus.
Seit Tagen schon bombardierte die russische Armee das kleine Dorf Otscheretyne, in dem vor dem Krieg einmal 3.000 Menschen wohnten. Die Front ist seit langem nah, bis zur einstigen Industriestadt Awdijiwka, welche die Russen im Februar einnahmen, sind es knapp 20 Kilometer Richtung Süden.
Lominowska harrte dennoch als eine von wenigen im Dorf aus, aber am Freitag entschloss auch sie sich zum Gehen - in letzter Minute. Sie verließ ihr Haus im Ortskern, ließ alles zurück und marschierte los. „Ich habe niemanden gesehen, nur Schüsse gehört. Ich wusste nicht, wo oder wer das war“, erzählt Lominowska. Sie lief durch Ruinen, vorbei an Leichen. „Ein Soldat lag da, schon tot, zumindest war er zugedeckt. Und der andere lag einfach so da.“
„Fast das ganze Dorf stand in Flammen“, sagt die alte Frau. „Heute habe ich gehört dass die Russen es bereits zur Hälfte eingenommen haben. Ich weiß nicht, was dort los ist.“
Mit einem alten Brett als Stock lief Lominowska einfach immer weiter die Straße nach Pokrowsk entlang, eine mehr als 30 Kilometer entfernte Stadt. „Ich habe keine Uhr, ich habe nichts. Ich bin lange gelaufen. Ich ging und ging, ohne mich umzudrehen“, erzählt sie. „Ich habe nur die Schüsse gehört. Ich dachte, sie würden auf mich schießen, aber da war niemand.“
„Ich lief und lief, ich habe so gelitten“, wiederholt Lominowska immer wieder. Nach mehreren Stunden auf der verlassenen Straße, näherte sich schließlich ein Auto. Zwei ukrainische Soldaten hielten an. „‘Großmütterchen, wo läufst du hin?‘ Da hab‘ ich gesagt: Ich laufe, so lange ich kann, und dann falle ich in die Wiese und schlafe“, beschreibt sie den Moment der Rettung. „Die Soldaten gaben mir zwei belegte Brote, eins davon habe ich gegessen. Ich hatte irgendwie keine Kraft mehr zum Essen.“ Die Militärs riefen die Polizei und die Beamten brachten Lominowska schließlich nach Pokrowsk.
„Sie ist ungefähr zehn Kilometer gelaufen“, sagt Pawlo Diatschenko, der Sprecher der Regionalpolizei. Otscheretyne sei inzwischen zerstört. In den umliegenden Dörfern sehe es nicht besser aus. „Das feindliche Bombardement hört einfach nicht auf“, sagt der Polizist. „Ein paar Menschen sind immer noch in Otscheretyne. Wie viele, wissen wir nicht, und auch nicht, ob sie tot oder noch am Leben sind.“